Medizin

Mit Fingerspitzengefühl

Bei Sehbehinderten ist der Tastsinn oft besonders ausgeprägt. Foto: imago

Im Jahr 2005 beschloss die deutsche Bundesregierung ein nationales Mammografie-Screening-Programm zur Brustkrebs-Früherkennung. Doch das gilt nur für Frauen über 50 Jahren, bei jüngeren Patientinnen muss weiterhin der Arzt im Rahmen seiner Routineuntersuchung auf Brustkrebs prüfen, indem er die Brust der Patientin nach Veränderungen abtastet.

Da solche Geschwulste im Anfangsstadium sehr klein sind, war der Gynäkologe Frank Hoffmann aus Mülheim an der Ruhr früher nicht sicher, ob er in den wenigen Minuten, die er für jede Patientin zur Verfügung hatte, etwas entdecken könnte. Damals kam ihm die Idee zu seinem innovativen Diagnoseprogramm »Discovering Hands«: Blinde Frauen nutzen dabei ihren erhöhten Tastsinn, um Brustkrebs im Frühstadium zu erkennen.

In einer neunmonatigen theoretischen und praktischen Fortbildung werden inzwischen blinde und sehbehinderte Menschen in qualifizierten Berufsförderungswerken zu Medizinischen Tastuntersucherinnen (MTU) ausgebildet. 17 von ihnen arbeiten mittlerweile an verschiedenen Standorten in Deutschland. Vor einiger Zeit begann die Ruderman Family Foundation – eine private Stiftung mit Sitz in den USA und Israel, die sich vor allem für die Inklusion behinderter Menschen in jüdischen Gemeinden einsetzt –, sich für Hoffmanns Konzept zu interessieren. Mit Unterstützung der Stiftung sollen die »Discovering Hands« bald auch in den USA und Israel zum Einsatz kommen.

aschkenasim »Ich kenne nicht viele private jüdische oder israelische Stiftungen, die deutsche Initiativen fördern«, sagt Jay Ruderman, Präsident der Ruderman Family Foundation. »Das ist heikel, angesichts unserer Geschichte.« Ruderman lernte Hoffmann auf einer Konferenz in der Schweiz kennen. Anschließend reiste er mit Hoffmann durch Deutschland, um sich in mehreren Kliniken und Arztpraxen das Programm vorführen zu lassen. In diesem Jahr sponserte seine Stiftung »Discovering Hands« mit 72.000 Dollar, als Nächstes will sie Kontakte nach Israel vermitteln. Dort dürfte das Interesse groß sein, denn das Brustkrebs-Risiko ist bei aschkenasischen Juden aus genetischen Gründen um ein Vielfaches erhöht. Gespräche mit dem Hadassah-Hospital in Jerusalem laufen bereits, im nächsten Jahr soll das Programm dort zum Einsatz kommen.

Für die Tastprüfung benötigt die Untersucherin etwa 30 bis 60 Minuten. Sie orientiert sich mithilfe von Spezialklebestreifen, die an der Brust der Patientin angebracht werden, während sie das Brustdrüsengewebe vollständig und gründlich abtastet. Die Klebestreifen unterteilen die Brust in Zonen, sodass die Untersucherinnen eine Geschwulst auf den Quadratzentimeter genau lokalisieren können. Bisher erstatten nur wenige gesetzliche Krankenkassen die Kosten für eine solche Untersuchung; in der Regel wird sie privat als IGEL-Leistung abgerechnet. Doch möglicherweise ändert sich das, wenn sich das Programm in der Praxis bewährt.

Eine Vorstudie der Universität Essen mit 451 Probandinnen hat gezeigt, dass die MTUs, also die blinden Untersucherinnen, dabei mehr und deutlich kleinere Gewebeveränderungen finden als Gynäkologen unter den Bedingungen einer Routineuntersuchung: Die MTU-Gruppe fand rund 50 Prozent mehr auffällige Gewebeveränderungen als die Ärzte, und die entdeckten Veränderungen waren circa 30 Prozent kleiner. In absoluten Zahlen: Die MTUs entdeckten insgesamt 32 abnormale Veränderungen, die den Ärzten entgangen waren. »Diese Frauen wären als gesund entlassen worden«, sagt Hoffmann. Im November soll eine weitere, umfangreichere Studie stattfinden.

inklusion Hoffmann glaubt, dass sein Programm irgendwann auch in anderen medizinischen Bereichen eingesetzt werden könnte. »Ein ausgeprägter Tastsinn ist auch in anderen diagnostischen Kontexten hilfreich. MTUs könnten eines Tages auch Augäpfel, die Prostata, Hoden oder Lymphknoten abtasten.«

Aus der Sicht der Ruderman Family Foundation ist aber gar nicht allein der Aspekt der Krebsfrüherkennung entscheidend, sondern ebenso sehr die beruflichen Chancen, die das Programm sehbehinderten Frauen bietet. »›Discovering Hands‹ ist ein großer medizinischer Fortschritt, aber es ist auch ein großer Fortschritt für die Inklusion von Blinden«, sagt Ruderman. Falls sich das Programm an ausgewählten Kliniken in Israel als Erfolg erweist, hofft Ruderman, dass anschließend das israelische Gesundheitsministerium einspringt, um »Discovering Hands« weiterzuentwickeln und den Einsatz auszuweiten.

Im nächsten Schritt möchte Ruderman dann auch in den USA MTUs ausbilden lassen. »Dieses Programm könnte auf der ganzen Welt erfolgreich sein«, glaubt er. »Denken Sie nur an die vielen Länder, in denen keine Mammografie verfügbar oder aber extrem teuer ist. Ein Verfahren, das ohne Hightech auskommt, kann überall auf der Welt eingesetzt werden.« (JNS.org)

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025