Gret Palucca

Mit den Beinen denken

Individuelle Persönlichkeiten waren ihr wichtig. Gret Palucca wollte ein Gefühl für Rhythmus und Stimmungen vermitteln. »Ihr müsst mit dem Kopf tanzen und mit den Beinen denken«, gab die Tanz-Ikone und legendäre Tanzlehrerin ihren Schülern mit auf den Weg. Die »Barfüßigen« lernten bei Gret Palucca, ihr Inneres künstlerisch auszuleben. Sie selbst beherrschte wie keine Tänzerin vor ihr den Raum – barfuß, mit federleichten Sprüngen und enormer Vitalität. Sie formte den modernen Ausdruckstanz, kreierte ihren eigenen Stil. Der ist für junge Tänzer noch heute ein Vorbild.

Bis ins hohe Alter unterrichtete Palucca in Dresden an der von ihr 1925 gegründeten Schule. Ihr Erbe prägt die Tanzszene bis in die Gegenwart. Palucca, die vor genau 25 Jahren starb, hat nachhaltige Spuren hinterlassen. In Dresden werden noch heute Tanzschüler in ihrem Sinn ausgebildet – an der bundesweit einzigen eigenständigen Hochschule für Tanz. Mädchen und Jungen können dort ab der fünften Klasse lernen und später studieren. Rund 200 junge Menschen aus mehr als 20 Nationen werden derzeit an dem Institut ausgebildet.

Individualität »Jeder muss, ganz im Sinne von Palucca, seine eigene Bewegungssprache finden«, sagt Rektor Jason Beechey. Der Kanadier – 47, hellwach, drahtig – leitet die Dresdner Palucca-Hochschule seit zwölf Jahren. »Aber niemand würde heute sagen, ich bin eine Ausdruckstänzerin, sondern: Ich bin eine Tänzerin«, betont Beechey. Das sei viel interessanter und vor allem sehr befreiend. Es ermögliche den Tänzern, stärker an ihrer Persönlichkeit und Individualität zu arbeiten.

Die drei Säulen der Ausbildung (Klassischer Tanz, Zeitgenössischer Tanz und Improvisation) stehen an der Hochschule gleichberechtigt nebeneinander. Es wird nicht mehr so scharf zwischen den drei Fäch ern getrennt wie früher, dafür gibt es zu viele Querverbindungen, führt Beechey aus.»Wir sind auf der Suche danach, eine eigene Lernmethode zu entwickeln.« Dabei seien Fantasie, Kreativität und Emotionalität enorm wichtig – Eigenschaften, die für Palucca ebenfalls essenziell waren.

Jeden Sommer veranstaltet die Schule eine Tanzwoche auf der Ostseeinsel Hiddensee, wohin sich Gret Palucca regelmäßig in den Sommerferien zurückzog und in der Natur Tanz-Improvisationen einstudierte.

stationen 1902 in München als Margarete Paluka und Tochter einer ungarischen Jüdin sowie eines türkischstämmigen Vaters geboren, kam die Tänzerin 1909 nach Dresden und erhielt ihren ersten Ballettunterricht. Als Schülerin stand sie dem klassischen Tanz mit großer Skepsis gegenüber. Eine Aufführung der Ausdruckstänzerin Mary Wigman (1886–1973) veränderte dann 1919 ihr Leben nachhaltig. Später bezeichnete sie dieses Erlebnis als ihre »künstlerische Offenbarung«.

Schon kurze Zeit danach nahm sie Unterricht in der Wigman-Schule in Dresden, änderte ihren Namen in Palucca und verschrieb sich dem Ausdruckstanz. Ihr erster Solo-Abend im Jahr 1924 stand unter dem einfachen Motto »Tanz Palucca« – das Publikum war begeistert. Die Kritiker feierten sie als »bezauberndes Geschöpf« und als »ein herrliches junges Raubtier«.

Mit ihrem Temperament, grotesken Elementen, akrobatischen Einlagen und ihrer Leichtigkeit faszinierte sie die – überwiegend männlichen – Journalisten. »Paluccas Tanz strahlt pure Lebensfreude aus«, beschrieb einer von ihnen seine Begeisterung. Fortan machte sie das Improvisieren bühnenfähig. Große Tourneen führten sie durch Deutschland und Europa. Seit Mitte der 20er-Jahre bis 1950 gab sie zahlreiche Solo-Abende.

NS-Zeit Paluccas Biografie spiegelt aber auch zwei Diktaturen wider. In der NS-Zeit versuchte sie zu verbergen, dass sie Jüdin war. 1936 wirkte Palucca an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin mit. Doch 1939 wurde ihre Schule geschlossen, auch, weil sie sich für jüdische Schülerinnen eingesetzt hatte. Ein generelles Auftrittsverbot traf sie selbst nicht (die Nazis stuften sie als »Halbjüdin« ein), es gelang ihr, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Später schwieg sie weitestgehend über diese Zeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete sie ihre Schule neu. Doch mit deren Verstaatlichung in der DDR 1949 begann ein neues Spiel mit der Obrigkeit – wenn auch mit einer ganz anderen. Wenn es ihr zu viel wurde, drohte sie mit Abwanderung in den Westen, zog sich auf die Insel Sylt zurück, später nach Hiddensee. Soweit es möglich war, schaffte sie sich hier einen künstlerischen Rückzugsort mitten im sozialistischen Realismus. Um ihren eigenen Stil weiter an ihrer Schule unterrichten zu können, erfand sie kurzerhand das Fach Neuer Künstlerischer Tanz.

In einem ihrer Interviews sagte sie: »Ich werde tanzen und arbeiten, solange ich die Kraft habe ... Das ist mein Trost, deshalb ist mir vor der Zukunft nicht bange.« Doch ihr großer Wunsch, dass ihre Schule den Hochschulstatus zugesprochen bekommt, erfüllte sich zu Lebzeiten nicht mehr. Palucca starb am 22. März 1993 im Alter von 91 Jahren in Dresden. Nur wenige Monate später gab es die von ihr ersehnte Dresdner Tanzhochschule.

Ihr Grab fand die Tänzerin und Tanzpädagogin auf dem Inselfriedhof auf Hiddensee. Auf dem Grabstein steht nur ein Wort: »Palucca«, schlicht und ohne Schnörkel.

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  19.10.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Über Wurstmeldungen und andere existenzielle Fragen

von Katrin Richter  19.10.2025

Aufgegabelt

Maroni-Kuchen

Rezepte und Leckeres

von Nicole Dreyfus  19.10.2025

Sachbuch

Ärger am Skopusberg

Yfaat Weiss skizziert die wechselvolle Geschichte der israelischen Exklave in Ost-Jerusalem zwischen 1948 und 1967

von Ralf Balke  19.10.2025

Innovation

Rettung für den Kinneret

Zum ersten Mal weltweit wird entsalztes Wasser in einen Süßwassersee geleitet

von Sabine Brandes  19.10.2025

Sehen!

»Red Alert«

Die Serie will das Geschehen des 7. Oktober in filmische Bilder fassen – die erzählerische Kraft des Vierteilers liegt in der Hoffnung

von Christoph Schinke  19.10.2025

Israel

Warum ich meine gelbe Schleife nicht ablege

Noch immer konnten nicht alle Angehörigen von Geiseln Abschied von ihren Liebsten nehmen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.10.2025

Berlin

Neue Nationalgalerie zeigt, wie Raubkunst erkannt wird

Von Salvador Dalí bis René Magritte: Die Neue Nationalgalerie zeigt 26 Werke von berühmten Surrealisten. Doch die Ausstellung hat einen weiteren Schwerpunkt

von Daniel Zander  17.10.2025

Theater

K. wie Kafka wie Kosky

Der Opernregisseur feiert den Schriftsteller auf Jiddisch – mit Musik und Gesang im Berliner Ensemble

von Christoph Schulte, Eva Lezzi  17.10.2025