70 Jahre Jüdische Allgemeine

»Meinungsbildend bei Journalisten«

Schenkt Jakob Augstein zwecks Weiterbildung ein Jubiläums-Abo der Jüdischen Allgemeinen: Kai Diekmann (52) Foto: Bild / Guenther

Herr Diekmann, welche Bedeutung hat die Jüdische Allgemeine für Sie?
Bei uns in der BILD-Redaktion gehört sie zur Pflichtlektüre. Die Zeitung informiert nicht nur hervorragend über das vielfältige jüdische Leben in Deutschland, sondern auch über Israel mit all seinen schönen wie auch seinen schwierigen Seiten, beispielsweise die tagtägliche Konfrontation mit dem Terrorismus. Ich finde es auch immer wieder spannend, zu sehen, welche Themen die Zeitung setzt. Das Blatt ist lebendig gemacht. Für mich ganz persönlich ist auch Folgendes sehr wichtig: Durch die Zeitung erfahre ich, was alte Freunde und Bekannte wie Michael Wolffsohn oder Arthur Cohn gerade machen.

Welche Funktion hat die Zeitung Ihrer Meinung nach im deutschen Journalismus?
Die Jüdische Allgemeine ist in ihrem Charakter einzigartig. Wer wissen will, was die jüdische Gemeinschaft denkt und welche Themen Juden in Deutschland bewegen, kommt an der Allgemeinen nicht vorbei. Das ist ein hervorragendes Alleinstellungsmerkmal. Insofern ist die Zeitung bei Meinungsmachern wie Journalisten meinungsbildend und aus der deutschen Medienlandschaft nicht wegzudenken.

Im September 2014 haben Sie in der Jüdischen Allgemeinen in einem Leitartikel zu Kundgebungen gegen Antisemitismus aufgerufen. Warum war Ihnen das so wichtig?
Das war die Zeit, als in ganz Deutschland vor allem arabisch- und türkischstämmige Deutsche sowie Linke auf die Straße gingen und Israel ungehemmt den Tod wünschten. Auch »Juden ins Gas!« war wieder auf deutschen Straßen zu hören. Dabei ist Deutschland ein Land der Juden. Die jiddische Sprache ist ein deutscher Dialekt, Berlin hat seinen kulturellen Aufstieg wie kaum eine andere Stadt Juden zu verdanken. Der Riss, der zwischen Judentum und Deutschland durch Auschwitz entstanden ist, ist die Grundtragik der deutschen Nation. Zur fundamentalen Gründungs- und Daseinsberechtigung der Bundesrepublik gehört einfach die Verantwortung, die aus unserer Geschichte erwächst. Mit dem Leitartikel wollte ich ein Zeichen setzen. Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz, was zum Glück breiter gesellschaftlicher Konsens in Deutschland ist. Wenn wir Deutsche Antisemitismus erleben und sehen, dass Israel bedroht wird, müssen wir laut unsere Stimme erheben.

In einem »Spiegel«-Streitgespräch hat sich der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner einmal als nichtjüdischer Zionist bezeichnet. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Israel beschreiben?
Meine tiefe Verbundenheit mit Israel speist sich aus drei Quellen. Zunächst einmal ist das persönliche Erlebnis wichtig. Das geht ja vielen Israelreisenden so, dass das Land als ein ganz besonderes Faszinosum empfunden wird. Das hat mit der Geschichte des Orts zu tun, mit den vielen historischen Schauplätzen und der Mystik der Weltreligionen, die dort zu Hause sind. Und natürlich mit den menschlichen Begegnungen.

Und zweitens?
Ich bin immer der Meinung gewesen, dass wir als Deutsche unsere Verantwortung ernst nehmen müssen, die sich aus unserer Geschichte und dem Holocaust ergibt. Dazu gehört, dass wir immer an der Seite Israels stehen, insbesondere dann, wenn das Lebensrecht Israels infrage gestellt wird. Und das ist seit der Gründung Israels leider jede Sekunde der Fall. Als Letztes kommt noch das Thema Freiheit hinzu.

Israel als einziger demokratischer Staat im Nahen Osten …
... ja, Israel ist in dieser schwierigen Region die einzige wahre Demokratie – und zudem von etlichen arabischen Staaten umgeben, die das Land am liebsten eher gestern als heute ins Meer treiben würden. Israel teilt die gleichen Werte, nach denen auch wir leben. Das Land verteidigt unser Wertesystem, und das jeden Tag. Dafür müssen wir im Westen den Israelis dankbar sein.

Welche Reaktionen erhalten Sie, wenn Sie in der BILD-Zeitung über den jüdischen Staat berichten?
Unser Eintreten für Israel provoziert auch immer wieder Gegenreaktionen. Auf der links- wie rechtsradikalen Seite. Gegenwind kommt auch von arabischstämmigen Lesern. Zum Teil ist es erschreckend, welche Briefe wir erhalten. Immer mehr Hass-Zuschriften kommen auch mit Klarnamen. Kürzlich bekam ich einen Brief: »Judenpack. Mögen Flugzeuge bei euch reinfliegen«. Kein Einzelfall. Den Absender habe ich angezeigt.

Sind BILD-Aufmacher wie 2014 der Aufruf »Nie wieder Judenhass!« ein Ladenhüter, oder verkaufen sie sich auch am Kiosk?
Natürlich wollen wir mit unserer Zeitung auch Geld verdienen. Aber es gibt Themen, da spielt es keine Rolle, wie sich das Blatt am Kiosk verkauft. Dazu gehören neben der erwähnten Kampagne auch unsere ausführlichen Berichte über die Holocaust-Prozesse und die Aktion »Wir helfen – #refugeeswelcome«. Das hat uns mit Sicherheit eine Reihe von Lesern gekostet. Aber da fühlen wir uns als BILD-Journalisten Werten verpflichtet –und diesen wollen wir treu bleiben. Wenn in unserem Land Juden geschmäht werden, werden BILD und ich sicherlich nicht danebenstehen und einfach zugucken.

Sie sprechen von »Kampagne«. Sollte sich ein Journalist nicht davor hüten, sich mit einer Sache gemein zu machen?
Nein! Für mich war dieses Diktum von Hanns Joachim Friedrichs immer schon Quatsch. Auch die großen Zeitschriftengründer in Deutschland wie Henri Nannen und Rudolf Augstein haben selbstverständlich Kampagnen gemacht. Sie sind an einem Thema drangeblieben. Ich wüsste nicht, warum man als Zeitung eine Kampagne unterlassen sollte, wenn man sie für gut und richtig hält.

Noch heute bekennen sich Journalisten bei Axel Springer mit ihrer Unterschrift unter ihren Arbeitsvertrag unter anderem zur Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes. Wie frei können Sie bei diesen Leitlinien über Israel berichten?
Viele missinterpretierten die Essentials von Axel Springer so, dass wir als Journalisten keine Kritik an Israel äußern würden. Das ist falsch! Natürlich kritisieren wir Israel. Aber eben immer aus der Perspektive des Freundes. Was wir nicht dulden, ist Israelhass. Ich arbeite für ein Haus, das sich die Verantwortung für den Schutz der Juden in seine Fundamente eingemeißelt hat. Axel Springer hat nach dem Krieg, nach der Schoa, diese Verantwortung erkannt und demonstriert, da weder Gesellschaft noch Staat in dieser Deutlichkeit dazu bereit waren. Auch dafür habe ich ihn bewundert, und sein Ethos hat BILD, die wichtigste Zeitung seines Verlages, bis heute geprägt. Und ganz ehrlich: Ist Israel-Bashing nicht oft auch eine sozial akzeptierte Form von Antisemitismus? Das ist mit uns nicht zu machen. In dem Zusammenhang zitiere ich immer meinen Freund Arthur Cohn: Wenn die Araber die Waffen niederlegen, gibt es Frieden. Wenn es Israel tut, gibt es kein Israel mehr. Treffender kann man die Situation Israels nicht beschreiben!

Und doch ist die Israel-Berichterstattung in den deutschen Medien oft einseitig, nicht selten auch verzerrend oder gar diffamierend.
Ich möchte mir kein Urteil über die Kollegen anmaßen. Oft gehen wir europäische Journalisten aber der anti-israelischen Propaganda der Araber auf den Leim. Es fehlt mitunter das Verständnis dafür, was es bedeutet, in einem so kleinen Land zu leben, inmitten von Feinden, die verkündet haben, dass es erst dann Frieden geben kann, wenn der letzte Israeli ins Meer getrieben wurde. Schauen Sie sich den Bericht der TU Berlin an, die das Vorurteil untersucht hat, die deutsche Presse gehe zu zaghaft mit Kritik an Israel um. Das Gegenteil ist der Fall. Von 400 ausgewerteten Schlagzeilen wurde in drei Vierteln Israel als Aggressor dargestellt.

Was raten Sie den Kollegen?
Wie überall empfiehlt es sich, genauer hinzuschauen. Wir wissen, was der Iran macht, was die Hisbollah macht und welches Ziel die Hamas verfolgt: Es geht ihnen darum, Menschen – und zwar jüdische Menschen – zu ermorden. Wer dessen ungeachtet nur Israel unter die Lupe nimmt und zum Beispiel die Sicherheitsmauer in Jerusalem mit der Berliner Mauer vergleicht, begeht einen gravierenden Fehler. Der Zaun in Jerusalem hat den Zweck, Menschen in Israel vor Terror und Mord zu schützen. Die Mauer in Berlin hatte allein den Zweck, Menschen ihrer Freiheit zu berauben. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter.

Inwiefern?
Ich behaupte, dass Bürger jedes Landes berechtigt sind, über die Angemessenheit der israelischen Antwort auf Gewalt aus den Palästinensergebieten zu diskutieren – gerade in Israel wird dies ja auch sehr leidenschaftlich getan. Deutschen, meine ich, steht es gut zu Gesicht, bei dieser Diskussion nicht in der ersten Reihe zu sein. Das darf natürlich nicht in Denk- und Redeverboten enden. Aber es muss eine Rückbesinnung stattfinden auf unsere einzigartige Verantwortung für den Schutz eines Volkes, dem Deutschland so unendlich viel zu verdanken hat, an dem es sich aber auch auf nie mehr gutzumachende Art versündigt hat.

Wenn große deutsche Zeitungen nach Terroranschlägen wiederholt »Tote bei Schießerei in Israel« statt »Palästinensische Terroristen erschießen Israelis« titeln, ist das dann wirklich nur Unkenntnis und Unvermögen oder nicht vielmehr schon bewusst verzerrend?
Sagen wir es mal so: Während des letzten Gaza-Krieges etwa war die israelfeindliche Propaganda der Hamas im Gazastreifen der israelischen Öffentlichkeitsarbeit weit überlegen – wenn ich zum Beispiel an die Bilder staubiger Kinderpuppen in Gaza denke. Aus Wohngebieten heraus Israel beschießen, entsprechende Antworten provozieren und das Ganze medienwirksam ausschlachten: Damit umzugehen, ist eine wahrhaft schwierige Situation für Israel. Da sind wir Journalisten gefordert, genau hinzusehen, Ursache und Wirkung ganz klar zu benennen.

In diesem Zusammenhang werden der »Spiegel« und die »Süddeutsche Zeitung« oft kritisiert. Wie bewerten Sie das?
Wie gesagt: kein Urteil über Kollegen mit mir. Ich würde mir nur wünschen, dass mein Freund Jakob Augstein, der noch nie in Israel war, einmal dorthin reist und sich selbst ein Bild macht. Dann würde er besser verstehen, in welcher Situation sich die Israelis befinden und wie sich das anfühlt. Das ist ja generell die Aufgabe von Journalisten: hingehen, recherchieren, schreiben, was ist. Am 28. Juli hat Jakob, den ich wirklich sehr schätze und mag, Geburtstag. Zu diesem Anlass schenke ich ihm in diesem Jahr ein Abonnement der Jüdischen Allgemeinen (lacht).

Letzte Frage, Herr Diekmann. Im Judentum sagt man zum Geburtstag »Bis 120!«. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie der Zeitung wünschen?
Der Jüdischen Allgemeinen wünsche ich, dass sie so fundiert, interessant und spannend weitermacht – aber nicht nur bis 120, sondern noch länger. Wenn ich mir für die Zukunft etwas Politisches wünschen kann, dann dies: dass Israel nur noch von Freunden umgeben ist, der Nahe Osten ein Hort des Friedens wird, dass sich für uns als Deutsche an unserer Verantwortung und Freundschaft zu Israel nichts geändert hat und dass es nicht mehr notwendig sein wird, jeden Tag um das Leben unserer Freunde in Israel zu bangen.

Mit dem langjährigen Chefredakteur der BILD-Zeitung und ihrem heutigen Herausgeber sprach Philipp Peyman Engel.

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