Larry, der von Ben Stiller gespielte Held in der Filmkomödie Nachts im Museum (2006), wird an seinem ersten Arbeitstag als Nachtwächter von den Kollegen angewiesen, »die Regeln aufmerksam zu lesen«. Nachts erinnert sich Larry zwar an die Vorgaben, doch es ist zu spät: Sämtliche Exponate haben sich längst selbstständig gemacht.
So wie für das Museum in dem Hollywoodfilm gelten auch für jüdische Museen in Deutschland ungeschriebene Regeln. Die erste lautet: Die jüdischen Museen sind Produkte einer spätbundesrepublikanischen Erinnerungskultur. Sie sind Kinder des 9. November, als der Opfer und Zerstörungen der »Reichskristallnacht« staatlicherseits gedacht wurde. An diesem Tag wurden in den 80er- und 90er-Jahren die meisten jüdischen Museen eröffnet.
funktion Die zweite Regel ist, mit einem Frankfurter Manager gesprochen: »In einem jüdischen Museum feiere ich ungern.« Ungern, weil eine Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen, die ein jüdisches Museum bei den Besuchern hervorruft, nicht zu einer ausgelassenen und entspannten Firmenfeier passt. Diese Häuser sind zum Gedenken da – und zum Lernen über das Gedenken.
Eine dritte Grundregel für jüdische Museen lautet: Sie sind Häuser, in denen nicht selten nichtjüdische Mitarbeiter (die den Besuchern oft als Juden gelten) für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft jüdische Ausstellungsprojekte realisieren.
Im Mittelpunkt der jüdischen Museen der Welt, vor allem der in Israel, den USA und Osteuropa, stehen Fragen gesellschaftlicher Identität, die allesamt mit der Schoa zu tun haben, auch wenn die jüdischen Museen dort per se keine Holocaustmuseen sind. Sind die performativ inszenierten Häuser an der Ost- und Westküste der USA gleichzeitig Zentren der Toleranz, in denen man über den Umgang mit Minderheiten in einer multinationalen Gesellschaft lernt, bilden das Diaspora-Museum in Tel Aviv, das Israel-Museum in Jerusalem und vor allem auch die Gedenkstätte Yad Vashem ein Kernelement der israelischen Gesellschaft.
identität Die Katastrophe in Europa ist eine tragische historische Chance für den jüdischen Staat gewesen – für diese Aussage steht das Jerusalem-Panorama im letzten Raum der Dauerausstellung in Yad Vashem. Dies symbolisiert der markierte Pfad des Antisemitismus, der sich nach unten bewegt und in der Massenvernichtung der europäischen Juden seinen traurigen Tiefpunkt findet. Der Wiederaufstieg ist mühsam, er führt durch die Hall of Remembrance zu dem berühmten Blick auf Jerusalems Hügel. Eine Erlösung der Überlebenden durch die Heimstätte Israels – eine tragische Positivität.
Auch im kürzlich eröffneten Polin-Museum in Warschau versucht man, eine nach außen wahrnehmbare Identität der polnischen Gesellschaft zu prägen: Das europäische Polen sei nicht nur ein Land des Antisemitismus und der deutschen Todesfabrik Auschwitz, sondern auch ein Land des jahrhundertelangen jüdischen Lebens gewesen.
In Deutschland fehlt eine solche hoffnungsvolle Aussage gänzlich, die positive Teleologie hat im Land des Holocaust keine Chance, man dreht sich hier eher im Kreis der traurigen, immer neu wiederkehrenden Ausweglosigkeit. Eine jede jüdische Geschichte führt zur Schoa. Vor allem die kleineren jüdischen Museen hierzulande beschreiben auch eine gesellschaftliche Identität, nur eine negative. Das hat stark mit dem Tabu des Relativierens zu tun. Hierzulande kann die Auseinandersetzung mit der Schoa nicht, wie etwa in den USA, als Metapher der Toleranz benutzt werden, denn das wäre eine Trivialisierung der Schoa.
chance Eine solche scheinbare Ausweglosigkeit kann indes auch eine Chance für jüdische Museen in Deutschland bedeuten. Diese Chance hat einen konkreten Namen: Geschichte. Jüdische Museen sollten weniger Identitätsmuseen, sondern vielmehr historische Museen werden. Die nichtjüdischen Besucher der jüdischen Museen, circa 95 Prozent ihres Publikums, schauen sich Ausstellungen über das Frankfurter oder Berliner jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts an und haben die Schoa vor Augen, von der sie nichts mehr hören wollen, ohne viel darüber zu wissen. Diese paradoxe Konstellation erinnert stark an die Quadratur des Kreises.
Durch eine Rückwendung zum kontextualisierten und entsprechend visualisierten historischen Prozess könnten die Museen auch die heranwachsende Generation der jungen Juden hierzulande mitnehmen, die derzeit diese Häuser meidet. Diese Räume verstehen die jungen Juden zunehmend performativ und politisch, in ihnen sollte eine Distanz zum Offiziellen, staatlich Vorgegebenen, immer größer werden.
Ihnen – den »Russen« und Israelis, den Ex-DDR-Bürgern und polnischstämmigen Enkeln der heutigen Münchner oder Frankfurter – fehlt oft historisches Wissen. Sie sind »identitär«, nämlich durch zwei, drei paradigmatische Aussagen über das heutige Judentum geprägt worden.
Einwanderer Was also tun? Ist es mit der Darstellung des historischen jüdischen Lebens jenseits der Schoa getan? Mitnichten. Als Erstes müsste die neue jüdische Gemeinschaft Deutschlands thematisiert werden, die nach 1990 entstanden ist. Wie verhielt es sich mit der untergehenden Sowjetunion jenseits des Mythos eines »Ägypten« für Juden? Welche Aufnahmebedingungen warteten in Deutschland auf die rund 200.000 jüdischen Einwanderer, und welche Kultur haben sie mitgebracht? Wie änderte sich die Vorstellung einer »unmöglichen Heimat« für die Alteingesessenen, und was spielte sich in den Gemeinden während der 90er-Jahre ab, als die »Russen« plötzlich da waren?
Und nicht zuletzt: Welche Vorstellungen brachten Tausende junge Israelis mit nach Berlin? Welche (ost-)europäischen und deutschen Vorgeschichten haben sie, und warum verlassen sie Israel, ein Land, das als hoffnungsvolles Panorama in Yad Vashem eine Rettung versprach und lange Zeit die einzige Hoffnung bundesrepublikanischer Juden war?
Diese Fragen, sorgfältig und gleichzeitig allgemein zugänglich aufgearbeitet, würden das Gespür für Geschichte stärken und eventuell diverse di- und trialogische (Judentum, Christentum, Islam) Fragen wieder gesellschaftlich relevant machen. Im Moment fehlt den interreligiösen Gesprächen eine historische Basis, sie leben von der tagespolitischen Aktualität, die das jüdisch-muslimische Gespräch in den Vordergrund stellt und eine beidseitige Übermüdung nach Dekaden des jüdisch-christlichen Dialogs zum Ausdruck bringt.
zeitlos Eine europäische Perspektive auf die deutschen Geschehnisse würde auch das Nebeneinander einer sowjetischen Uniform mit den Kriegsauszeichnungen, eines sefardischen Amuletts als Mitbringsel nach Berlin und einer Torarolle aus einer kleinen westdeutschen Stadt in einem jüdischen Museum legitimieren.
Die jüdische Religion im Museum würde dann nicht mehr statisches Panorama eines zeitlosen »jüdischen Lebens« sein, etwa mit einem zeitlosen Pessachseder, sondern auch einen historischen Prozess markieren, bei dem wandelbare Rituale präsentiert würden und die Frage nach der Provenienz einer ungarischen Chanukkia in einem deutschen jüdischen Museum durchaus erlaubt wäre.
Eine Historisierung und somit angebliche Trivialisierung der Katastrophe, die größte Befürchtung der nichtjüdischen und jüdischen Gesellschaft Deutschlands, droht bei einer solchen Einstellung nicht: Ein visuell aufgearbeitetes kontextualisiertes Wissen über die Schoa ist einem emotionalisierten und ritualisierten zeitlosen Nachfühlen eindeutig vorzuziehen.
offenheit Wenn die jüdischen Museen es schaffen, bewusste Seismografen historischer Entwicklungen in Deutschland und Europa zu werden, würden sie ihre Existenz und ihre staatliche Finanzierung mehr als rechtfertigen. Sie würden auch eine Offenheit schaffen, bei der das Wahrnehmungsspektrum viel breiter wäre als die aktuelle Trias von »trauern«, »Angst haben« und »nicht feiern wollen«.
Von 10 bis 18 Uhr, »tagsüber im jüdischen Museum«, würde sich dann das gesellschaftliche und intellektuelle Klima in Deutschland verändern. Ein kritischer, unhysterischer Blick auf die jüdische Geschichte könnte für eine positive gesellschaftliche Bedeutung künftiger Museen stehen und diese auch von innen modernisieren.
Der Autor ist Historiker, Kurator und Referent des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerkes (ELES).