Comics

»Maus« und mehr

In einer Vitrine liegt ein Antrag auf Einbürgerung in die USA. Unter »besondere Kennzeichen« wird da vermerkt: »Tattoo left forearm # 175113.« Vladek Szpigelman hieß der Antragsteller. 1906 in Polen geboren und – die auf den linken Unterarm tätowierte Nummer verrät es – den nationalsozialistischen Vernichtungslagern entronnen. Genauso wie seine sechs Jahre jüngere Frau Anja. Das war 1951. Ihr Sohn, 1948 in Stockholm geboren, wird 20 Jahre später beginnen, ihre Geschichte (und seine) in einer Serie von Comics zu erzählen, deren erste sechs Kapitel 1986 als Buch erscheinen: Maus. A Survivor’s Tale.

opus magnum Art Spiegelman erhält, nachdem 1992 auch der zweite Teil von Maus vorliegt, den Pulitzerpreis. Seitdem gilt er nicht nur in Amerika als Zeichner, der die Welt und die Wirkung der Comics verändert, sie für die Zeitgeschichte wie für die aktuelle Politik geöffnet und damit die Bildergeschichten vom Odium des Kinderkrams und der Billigunterhaltung für Anspruchslose befreit hat. (Dabei wird allerdings meist übersehen, dass sich die belgischen und französischen »Bandes dessinées« etwa von Claire Bretécher, Gérard Lauzier oder Enki Bilal bereits weitaus früher als anspruchsvolle Form des Erzählens mit und in Bildern durchgesetzt hatten.)

Maus als Opus magnum bildet das Zentrum der Ausstellung CO-MIX Art Spiegelman, die das Kölner Museum Ludwig bis zum 6. Januar 2013 zeigt. Die Bilderfolge (wenngleich nur als Faksimile) beherrscht als Fries einen der drei Räume, begleitet von Entwurfszeichnungen und Skizzen im Original, aus denen sich die Mühsal der Entstehung ablesen lässt. Denn Spiegelman ist ein skrupulöser Zeichner: »Ich mache bis zu 20 Entwürfe für jede Seite. Alle mit der Unsicherheit und Furcht, die Leute könnten hinter mein fieses Geheimnis kommen: Ich kann nicht zeichnen.«

Diese Worte legt er sich in einem Comic in den Mund, den er 1993 gemeinsam mit Maurice Sendak über ihre Begegnung für die Zeitschrift New Yorker gezeichnet hat. Der im Mai dieses Jahres verstorbene Sendak, zwei Jahrzehnte älter, war ebenfalls Amerikaner mit ostjüdischem »Migrationshintergrund«. Auch er konnte und wollte seine Herkunft und die damit verbundenen Heimatgefühle wie Traumata seiner Kindheit in Brooklyn nicht verleugnen.

inspiration Was bei Sendak eher im Atmosphärischen seiner Kinderbücher mitschwingt, übersetzte Spiegelman in seinen frühen Zeichnungen in groteske Situationen. So erklärt sein kindliches Ich, nachdem er von seiner widerstrebenden Mutter ein MAD-Heft erquengelt hat: »Ich studierte MAD, so wie andere Kinder den Talmud studierten.« Der Erfinder von MAD war und ist noch immer eine von Spiegelmans Leitfiguren: »Es waren Harvey Kurtzmans frühe MAD-Comics, die mein Leben ruinierten – sie lehrten mich, Autoritäten genauer und kritischer zu betrachten.« Der anarchisch-sarkastische Witz von MAD, der Kalauer ebenso wenig scheute wie ausgeklügelte literarische oder politische Anspielungen, imponierte dem jungen Spiegelman und inspirierte ihn.

Nach Studienjahren in New York zieht er 1971 nach San Francisco, die Hochburg der Underground-Comix (das »x« am Ende sollte die Verachtung für die konventionell-kommerziellen Comics mit »c« demonstrieren). Dort zeichnet er für alle möglichen, oft kurzlebigen Hefte, gründet eigene und beginnt zu unterrichten. Denn Spiegelman ist die Geschichte dieser populären Kunstform, das verraten nicht zuletzt zeichnerische Anlehnungen und Variationen, gut vertraut. Er schätzt Rodolphe Töpffer, den Urvater des Genres, genauso wie Gustave Doré oder Wilhelm Busch, Lyonel Feininger und seine »Kinder-Kids«. Nicht zufällig tauchen in Spiegelmans Zeichnungen klassische Figuren wie Betty Boop, Dick Tracy und andere Comic-Stereotype als Zitat oder Travestie auf.

1975, als sich die Hippie-Zeit dem Ende zuneigt, kehrt er nach New York zurück. Nun haben seine Auftraggeber klangvolle Namen. Die New York Times gehört dazu, bald auch der Playboy und der Verlag Zweitausendeins in Deutschland, für dessen Boris-Vian-Ausgabe er die Titel gestaltet. 1977 heiratet Art Spiegelman die französische Architekturstudentin Francois Mouly, mit der er gemeinsam eine eigene Comiczeitschrift, Raw, herausgibt.

cover Seit 1993 gestaltet Spiegelman auch die Titelseiten des New Yorker. Er debütiert zum Valentinstag mit dem Bild eines Chassiden, der eine dunkelhäutige Frau küsst, was dem Magazin Aufmerksamkeit und Ärger einträgt. Das wiederholt sich regelmäßig, wenn Spiegelman sich politischen Themen – Clintons Lewinsky-Affäre, unfairen Steuern oder Übergriffen der New Yorker Polizei – zuwendet. Oder wenn er nach 9/11 ein ikonisches Bild von Norman Rockwell zu Thanksgiving variiert.

Da zertrümmert ein Stein das Fenster einer arabischen Familie, die gerade à la Rockwell den Truthahn auf den Tisch bringt. Gelegentlich gibt Spiegelman sich auch freundlich, etwa auf dem Titel einer Dezemberausgabe, wo ein Weihnachtsmann und ein Rabbi, beide mit wallendem weißen Bart, vor Läden mit Weihnachtsbaum und Chanukka-Leuchter spazieren.

All das wird in Köln ausführlich ausgebreitet. Art Spiegelmans Comics, bis hin zu seinem 9/11-Werk Im Schatten keiner Türme stehen neben spöttischen Beigaben zu Kaugummi-Packungen, Buchumschlägen und Kinderbüchern, aber auch den szenischen Entwürfen für die experimentelle Ballettgruppe Pilobolus. Mit einem schnellen Blick ist das nicht abgetan. Denn Comics – und besonders Art Spiegelmans Comics – sind keineswegs nur Bilderfutter.

Die Texte gehören genauso dazu. Deshalb ist im Museum Ludwig der Leser genauso gefordert wie der Bildbetrachter. Eine gehörige Portion Zeit sollte der Besucher also mitbringen. Wer das als Zumutung empfindet, für den hat Spiegelman, sich der Zwiespältigkeit, seine Arbeiten im Museum auszustellen, durchaus bewusst, eine überzeugende und zugleich irritierende Antwort: »I made books.«

»CO-MIX: Art Spiegelman«. Eine Retrospektive von Comics, Zeichnungen und übrigem Gekritzel. Museum Ludwig, Köln, bis
6. Januar 2013

www.museenkoeln.de

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