Essay

Marxisten und Religionstiroler

Personifikation des jüdischen Philosophen: Doch ist Maimonides’ Werk primär wirklich nur dem Judentum verhaftet? Foto: dpa

Essay

Marxisten und Religionstiroler

Argumentieren viele jüdische Denker letztlich christlich? Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, was »jüdische Philosophie« eigentlich bedeutet

von Micha Brumlik  05.07.2016 20:21 Uhr

Stimmengewirr, erhitzte Gemüter, heftige Diskussionen. Soeben hat ein Nachwuchswissenschaftler am Zentrum für Jüdische Studien der Humboldt-Universität, Christoph Kasten, seinen Vortrag über Franz Rosenzweig beendet. Darin hatte er behauptet, dass der aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus stammende Kasseler Philosoph kurz vor dem Ersten Weltkrieg zwar darauf verzichtet hatte, zum Christentum zu konvertieren, er aber in Stil und Inhalt seiner philosophischen Schriften ganz und gar dem christlichen Denken verhaftet geblieben sei.

Der jüdische Philosoph Rosenzweig sei – so auch die pointierte These des Professors für katholische Theologie Rainer Kampling – eine Erfindung des christlichen Nachkriegsdeutschland, behauptet Kasten. Geteilt wurde die These vom anwesenden David Ruderman, einem der bekanntesten Judaisten der USA und brillanten Erforscher des Judentums zu Beginn der Neuzeit. Er berichtete, dass Moshe Idel, Nachfolger Gershom Scholems bei der Erforschung der Kabbala, jüngst ein Buch publiziert hat, das den bekannten deutsch-jüdischen Philosophen von Mendelssohn bis Buber nachweisen will, dass sie letztlich alle christlich argumentieren.

talmud Was also ist jüdische Philosophie? Zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie von Juden und Jüdinnen und nur von ihnen betrieben wurde und wird? Oder dadurch, dass sie sich auf die Schriften der jüdischen Tradition, auf Tenach, Mischna und Talmud, stützt? Oder nicht doch dadurch, dass sie die existenziellen Erfahrungen von Juden seit 2000 Jahren zu ihrem Inhalt hat? Lässt sich daher zwischen Themen jüdischer Philosophie hier sowie Denk- und Argumentationsstilen dort unterscheiden? Sodass die jüdischsten jüdischen Philosophen jene wären, die mit jüdischen Argumentationsstilen jüdische Themen bearbeiten?

Ein klarer Fall scheint der berühmteste, allseits als solcher anerkannte Moses Maimonides (1335–1204) zu sein, der ja nicht nur den Führer der Unschlüssigen verfasst, sondern auch die mischnischen Weisungen in seinem monumentalen Werk Mischne Tora kodifiziert hat und – mehr noch – einen Kanon jüdischer Glaubenslehren aufgestellt hat: 13 an der Zahl.

Dagegen wurde als Unterschied zwischen jüdischem und christlichem Denken behauptet, dass es im Judentum um gottgefälliges Handeln, nicht aber um Glaubenssätze gehe. Indes: Was ist dann von Glaubenssätzen des Maimonides zu halten? Sind sie ihrer Form wegen nicht jüdisch? Nicht wenige Forscher sind übrigens der Auffassung, dass Maimonides zwar stets als Jude lebte, schrieb und lehrte, er aber seiner ganzen Denk- und Lebensweise nach dem Islam verhaftet war, zumal der auf der Übernahme der antiken Philosophen Aristoteles und Plotin beruhenden Philosophie des »Kalam«.

Unausweichlich wurde bald der Name Hannah Arendts in die Diskussion geworfen, die doch mit ihren im 20. Jahrhundert verfassten Büchern über Rahel Varnhagen, den Totalitarismus und Antisemitismus der Weltkriegsperiode, ihren Beiträgen zum Eichmannprozess und zum Zionismus beispielhaft jüdische Philosophie betrieben habe. War es doch auch Arendt, die kämpferisch proklamiert hatte, dass sie sich, so sie als Jüdin angegriffen werde, auch als Jüdin zu verteidigen habe.

Heidegger Freilich ergibt ein näherer Blick auf Hannah Arendts Epoche machendes Werk einen ähnlichen Befund wie der Blick auf Maimonides: So sehr sie sich – wie keine andere – mit einer Philosophie jüdischer Existenz befasst hatte, so wenig schöpft sie doch aus den Quellen jüdischer Tradition. Arendt bediente sich vielmehr aus den Werken der griechischen Philosophie und blieb grundsätzlich der von ihrem lebenslangen Freund und zeitweiligen Geliebten Martin Heidegger geprägten Existenzphilosophie verpflichtet.

An ihrer Treue zu Heidegger hat sich auch bei aller Kritik an dessen nationalsozialistischem Engagement nie etwas geändert. Damit wäre Arendt – wenn man diese terminologische Unterscheidung in Kauf nimmt – eher so etwas wie eine Philosophie der Judenheit denn des Judentums gelungen.

Ähnlich wie Arendt, aber doch in der westdeutschen Nachkriegskultur weitaus wirkmächtiger, waren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die stets als jüdisch galten. Waren sie es wirklich? Das wird man so jedenfalls von Adorno nicht behaupten können, dem Sohn einer italienischen, einer katholischen Mutter, dem nichts unsympathischer war als das jüdische Philosophieren Martin Bubers, den er in den 30er-Jahren spöttisch als »Religionstiroler« bezeichnet hatte. Andererseits lässt sich nicht bestreiten, dass es wohl Adorno war, der jenen Satz formulierte, der in der 1947 publizierten Dialektik der Aufklärung das, worum es dem Judentum immer auch ging, in unmissverständlicher Klarheit zum Ausdruck gebracht hatte: »Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«

Sehnsucht Ganz anders Adornos Ko-Autor und Freund Max Horkheimer. Der Philosoph, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg in den Spuren Schopenhauers und Marx’ jede religiöse Anwandlung als unreif oder naiv gegenüber der Realität weltgeschichtlichen Leids kritisiert hatte, hat sich später wieder der jüdischen Religion zugewandt und ebenjene Gefühle, die er vormals noch kritisiert hatte – Hoffnung sowie »Sehnsucht nach einem ganz Anderen« –, rehabilitiert.

Indem er das von der Kritischen Theorie vorausgesetzte (negative) Absolute, dessen Abbildung verboten ist, als Sinnbedingung eines die Welt verändernden Handelns postulierte, als Sehnsucht danach, »dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«, gewinnt er eine philosophische Transformation der Theologie. Jüdisch ist diese Theologie deshalb, weil es der so artikulierten Sehnsucht nicht nur um individuelle Erlösung, sondern um die Rettung der Gemeinschaft geht, in der ein Mensch lebt.

Schließlich ordnete sich der ehemalige Religionskritiker und Marxist, der die Werke der jüdischen Philosophie gut kannte, einem Judentum des Bilderverbots im Unterschied zu einem um positive Utopien bemühten Messianismus zu, einer Haltung, die ihn bei aller Bejahung des Staates Israel als Refugium für bedrohte Juden in Widerspruch zum Zionismus führte. Ihm steht er seines nationaljüdischen Partikularismus wegen skeptisch gegenüber – verheiße die Bibel doch, dass die Gerechten aller Völker nach Zion wallfahren werden.

Kein Zufall war es, dass Max Horkheimer auch den Philosophen Hermann Cohen (1842–1918) im Blick hatte, einen der ganz wenigen Juden, die schon im 19. Jahrhundert eine ordentliche Professur innehatten. Aus Cohens Feder stammt das 1919 postum erschienene Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, in dem er den überzeugenden Versuch unternahm, als Geist der Philosophie Immanuel Kants die universalistische Lehre der biblischen Propheten nachzuweisen.

Kant Daher ist es kein Zufall, dass sich etwa Jacques Derrida der Frage zuwandte, ob Immanuel Kant zumal der Unbedingtheit seines Kategorischen Imperativs wegen in seinem Denken letztlich ein Jude gewesen sei. Der Titel eines 1990 verfassten Textes von Derrida über Hermann Cohen und Franz Rosenzweig lautet: »Interpretations at war. Kant, der Jude, der Deutsche«. Der Jude und der Deutsche, so Derrida in diesem Text, »verbinden sich in der eigentlichen Subjektivität des Kantischen Subjekts«.

Bei alledem bleibt aber die Frage nach dem eigentümlichen Stil – nicht den Inhalten jüdischen Denkens – ungeklärt, weshalb kein Weg daran vorbeiführt, sich den Rabbanim der späten Antike zuzuwenden, die eine Philosophie ganz eigener Art entwickelt haben. Ein Beispiel möge genügen: Im talmudischen Traktat Bawa Metzia 59 geht es darum, ob die Auslegung einer Halacha durch Rabbi Elieser zutrifft oder nicht. Der Rabbi bewirkt zum Beweis allerlei Wunder, beeindruckt aber die Mehrheit seiner Kollegen nicht, bis er Gott selbst zur Bestätigung seiner Ansicht herbeiruft.

Dann aber, so die talmudische Erzählung, »ging eine Hallstimme hervor und sprach: Was habt ihr mit Rabbi Elieser? Die Halacha ist auf jeden Fall, wie er sagt. Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte: ›Nicht im Himmel ist sie‹. Was bedeutet ›Nicht im Himmel ist sie?‹ Rabbi Jirmeja sagte: dass die Weisung schon am Berg Sinai gegeben worden ist. Wir kümmern uns nicht um eine Art Stimme, denn schon am Berg hast du in die Weisung geschrieben: ›sich zur Mehrheit neigen.‹«

Dass indes auch diese ganz eigentümliche dialogische und narrative Philosophie in einem interkulturellen Kontext entstanden ist, hat jüngst Daniel Boyarin in seinen 2009 publizierten talmudischen Studien nachgewiesen. Sie tragen den Titel: Socrates and the fat rabbis.

Der Autor ist Erziehungswissenschaftler, Publizist und hat die Franz-Rosenzweig-Gastprofessur der Universität Kassel inne. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums«.

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