Redezeit

»Man sah ihm das Böse nicht an«

Edgar Feuchtwanger Foto: Bertil Scali

Herr Feuchtwanger, Sie lebten zehn Jahre lang in München Tür an Tür mit Adolf Hitler. Es ist überliefert, dass die Sicherheitsvorkehrungen vor der Wohnung des Diktators erstaunlich schlecht waren. Mit etwas Glück hätten Sie Hitler umbringen können.
Ja. Nach dem Krieg habe ich manchmal gedacht: Bis 1939 hättest du womöglich ein Attentat verüben können. Vielleicht wäre die Geschichte durch einen einzigen Schuss anders verlaufen, wer weiß. Doch als ich einige Monate nach den Novemberpogromen nach England floh und nicht mehr neben Hitler wohnte, war ich gerade mal 15 Jahre alt. Bis dahin hatte ich noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt, geschweige denn geschossen. Es ist, wie es ist.

Sie wohnten am Prinzregentenplatz, als Hitler Ihr neuer Nachbar wurde. Welche Erinnerung haben Sie an Ihre erste Begegnung?

Das erste Mal sah ich ihn 1933, kurz nachdem er Reichskanzler wurde. Mein Kindermädchen Rosi ging damals mit mir spazieren. Als wir das Haus verließen, kreuzte er unseren Weg. Hitler blieb kurz stehen und schaute uns direkt an. Die umstehenden Passanten waren sofort in Aufregung und riefen: »Heil Hitler!«

Wie haben Sie reagiert?
Wir sagten ganz normal »Guten Tag«. Ich war überrascht, dass Hitler ein unscheinbarer Mann war. Zuvor war er mir in Albträumen oft als Menschenfresser in Gestalt des Struwwelpeters erschienen. Aber man sah ihm das Böse überhaupt nicht an.

Wurde bei Ihnen zu Hause viel über die Nazis gesprochen?
Unentwegt. Meinen Eltern war von Anfang an bewusst, dass der Aufstieg Hitlers eine Katastrophe für uns ist. Es ist ja nicht so, dass die Nazis ihre Ziele für sich behalten hätten. An unserem Haus führten viele Märsche der SS und SA vorbei, bei denen Parolen wie »Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!« gesungen wurden. Das Datum, an dem Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, markierte in gewissem Sinne das Ende meiner Kindheit.

Was änderte sich dadurch in Ihrem Leben?
Zuallererst einmal standen von einem Tag auf den anderen noch mehr große schwarze Mercedes-Limousinen vor unserer Tür als bisher. Zuvor hatten maximal drei Autos auf Hitler mit laufendem Motor gewartet, nun waren es manchmal zehn. In meiner Schule änderte sich auch sehr viel: Meine Klassenlehrerin war schon vor 1933 eine glühende Anhängerin Hitlers gewesen. Jetzt hatte sie freie Fahrt und machte uns das Leben schwer.

Inwiefern?
In unser Schulheft mussten wir all die Nazi-Parolen wie »Die Juden sind unser Unglück!« schreiben. Meine jüdischen Mitschüler und ich wurden schikaniert. Die anderen grenzten uns aus und feindeten uns als »minderwertig« an.

Hatten Ihre Eltern nach der Machtergreifung Pläne, Deutschland zu verlassen?
Mein Vater reiste 1935 ins damalige Palästina, wo seine zwei Schwestern lebten. Beide waren überzeugte Zionistinnen und machten in den 20er-Jahren Alija. Er wollte sich dort einen Eindruck vom Land machen und unseren Umzug vorbereiten. Als er nach Deutschland zurückkehrte, entschied er sich dazu, in München zu bleiben.

Weshalb?
Im intellektuellen Leben des jüdischen München spielte mein Vater eine wichtige Rolle. Als Verlagsleiter musste er sich ab 1933 zwar offiziell zurückziehen, informell hatte er aber immer noch viel Einfluss. Und paradoxerweise gab es Mitte der 30er-Jahre eine Art jüdische Renaissance in Deutschland: ein Aufblühen im Angesicht des Todes, wie wir heute wissen. Das wollte er trotz allem vorerst nicht gegen ein unbestimmtes Leben woanders eintauschen.

Ihr Onkel Lion Feuchtwanger kehrte Deutschland noch am Tag der Machtergreifung den Rücken.
Ja. An diesem Tag fand in Washington ein Festbankett für ihn statt. Das hatte die Deutsche Botschaft für ihn organisiert. Ein anwesender Diplomat warnte ihn davor, nach Deutschland zurückzukehren. Die Nazis würden ihn andernfalls sofort umbringen. Sie hätten an ihm als berühmter jüdischer Schriftsteller ein Exempel statuiert. Mein Onkel hatte sich öffentlich ja immer über Hitler lustig gemacht, was dieser sehr verärgert zur Kenntnis nahm.

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs floh Ihre Familie dann nach England. Wie haben Sie im Exil die Situation in Deutschland verfolgt?
Wir hatten große Angst. Einige Monate nach unserer Ankunft in England hat Hitler Polen überfallen. Nachdem er dann Frankreich besiegte, wäre auch England fast bezwungen worden. Alle Juden in Großbritannien wussten, was das bedeutet hätte. Eine Niederlage wäre unser Tod gewesen.

Haben Sie nach 1945 je mit dem Gedanken gespielt, nach München zurückzukehren?
Nein, das kam für mich nicht infrage. Ich fühlte und fühle mich in England sehr wohl. Bis heute pflege ich aber viele Verbindungen nach Deutschland. Mein Vater wollte jedoch zurück. In England konnte er beruflich nicht richtig Fuß fassen. In München wäre er wie vor dem Krieg wieder eine wichtige Persönlichkeit geworden. Sein geliebtes München sah er leider nicht mehr: 1947, vor der geplanten Rückkehr, verstarb er.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.

Edgar Feuchtwanger wurde 1924 in München geboren. 1939 emigrierte er mit seiner Familie nach England. Dort studierte er Geschichte an der Universität Cambridge und lehrte danach an mehreren Universitäten in England und Deutschland. Für seine Verdienste um die deutsch-englischen Beziehungen wurde ihm 2002 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Edgar Feuchtwanger, Bertil Scali: »Als Hitler unser Nachbar war – Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus«. Siedler, München 2014, 224 S., 19,99 €

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