Nachruf auf Fritz Stern

»Liberal im besten Sinne«

Zum Tod des Historikers und Zeitzeugen

von Michael Brenner  23.05.2016 18:42 Uhr

Beschrieb den Kulturpessimismus im 19. Jahrhundert als Vorbereiter des Nationalsozialismus: Fritz Stern (1926–2016) Foto: dpa

Zum Tod des Historikers und Zeitzeugen

von Michael Brenner  23.05.2016 18:42 Uhr

Seit ich 1988 als junger Doktorand an die Columbia University kam, war der Kontakt zu Fritz Stern nicht abgerissen, und noch vor wenigen Wochen traf ich ihn – körperlich schon schwach, doch geistig so rege wie immer – zu einem Gespräch in Washington. In den fast 30 Jahren, in denen ich ihn kannte, schien er sich fast nicht verändert zu haben. Er wirkte immer schon wie der Inbegriff des Intellektuellen. Anlässlich von Sterns 70. Geburtstag, sagte der ehemalige amerikanische Spitzendiplomat Richard Holbrooke, als er Stern zum ersten Mal gesehen habe, da wusste er, wie ein Intellektueller aussehe.

Stern war ein akademischer Lehrer, wie es ihn heute so nicht mehr gibt. Seine Seminare, oft bei ihm zu Hause, waren nicht nur »Sternstunden« in europäischer Geschichte, sondern brachten seine Doktoranden auch mit einem Zeitzeugen in Kontakt, der vieles aus seinem eigenen Leben zu berichten hatte.

Der Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber war sein Taufpate, später lernte er Albert Einstein und Chaim Weizmann kennen, und oftmals klingelte während der Seminare das Telefon, und er rief aus: »Oh hello, Helmut!« oder »One moment, Henry« – plötzlich waren Helmut Schmidt oder Henry Kissinger sozusagen mit im Raum. Er bat uns dann, sein Wohnzimmer kurz zu verlassen – und manchmal vergaß er danach auch, seine Studenten zurückzurufen.

ns-zeit In Deutschland wurde Fritz Stern bei seinen Auftritten nicht nur als der typische Intellektuelle, sondern als der typisch jüdische Intellektuelle wahrgenommen. Dabei waren bereits zwei seiner Großeltern getauft, und beide Elternteile wuchsen als Protestanten auf. In diesem Sinne wurde auch der 1926 in Breslau geborene Fritz erzogen. Natürlich mussten er und seine Familie 1938 Deutschland verlassen, weil Hitler sie zu Juden gemacht hatte. Aber es ist schon eine gewisse Ironie, dass der gebürtige Protestant im Nachkriegsdeutschland als Jude empfangen wurde.

Er trage »Hass im Herzen und Heine im Gepäck« hatte er einmal über den Rausschmiss seiner Familie aus Deutschland gesagt. Die tiefe Abneigung gegen jene, die ihn und seine Familie vertrieben hatten, prägte ihn während seiner Jugendjahre. In einem 1995 gehaltenen Vortrag über »Verlorene Heimat« brachte er es einmal umgekehrt zum Ausdruck: »Unvergessen die Tränen meines Vaters, als wir Ende September 1938 seine Heimatstadt Breslau verließen. Es war ein einmaliger Ausbruch von Gefühlen, Trauer um eine zerstörte Vergangenheit, Sorge um eine Zukunft voller Ungewissheit. Ich allerdings als Zwölfjähriger empfand nichts als Freude – Freude, den Gemeinheiten jener Zeit zu entrinnen.«

Doch als er bereits 1950 das erste Mal nach Deutschland zurückkam, begann seine langsame Annäherung an sein Geburtsland. Er besann sich darauf, dass ja auch Heine im Gepäck des mit zwölf Jahren aus Breslau Vertriebenen gewesen war. Von Heine stammte bekanntlich der Spruch, die Bibel sei der Juden portatives Vaterland. In Abwandlung von Heine blieb die deutsche Kultur Sterns Vaterland. Wie sehr er den deutschen Dichter, an dessen Biografie er bis zu seinem Tode schrieb, verehrte, konnte man an der Heine-Büste in seinem Büro in New York ersehen. Und wie Heine dachte auch Stern, dass das Taufwasser sein Judentum nicht abwaschen konnte.

Wiedervereinigung Stern war ein Liberaler im wahrsten Sinne des Wortes. Er kämpfte zeitlebens darum, dass »liberal« in den USA nicht als Schimpfwort bezeichnet wurde oder jemanden in die linksextreme Ecke abstellte. Er war auch ein wichtiger Brückenbauer zwischen Deutschland und Amerika. So durfte er etwa Anfang der 90er-Jahre den damaligen amerikanischen Botschafter Richard Holbrooke als Berater auf dessen Amtsgeschäfte einstimmen. Und als Margaret Thatcher ihn und drei weitere Historiker einlud, um deren Meinung über die deutsche Wiedervereinigung zu erfahren, war Sterns Diktum klar: In einem vereinten Europa gab es keinen Platz für zwei deutsche Staaten.

Fritz Stern erntete seinen ersten Ruhm auf einem Gebiet, das man als Ideengeschichte bezeichnen kann und das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht sehr populär war. Ein hierzulande wenig beachtetes Buch war die bereits 1956 von ihm editierte Anthologie zur Geschichtsschreibung, Varieties of History (deutsch: Geschichte und Geschichtsschreibung), die einen wunderbaren Einstieg in das historische Denken der Neuzeit bietet. Noch heute sollten alle angehenden Historiker diesen Band lesen.

Stern ging zeitlebens der Frage nach, wie es in Deutschland dazu kommen konnte, dass sich illiberales Denken und Kulturpessimismus durchsetzen konnten. Kulturpessimismus als politische Gefahr war der Titel seines ersten Hauptwerks, das noch zur traditionellen Ideengeschichte zu rechnen war. Darin setzte er sich mit dem antirationalen Denken der deutschen Rechten auseinander, das laut Stern eine Hauptursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus war.

autobiografisch Sein wohl wichtigstes Werk, eine Monografie über Bismarcks jüdischen Bankier Gerson Bleichröder, war dann eine Mischung aus Geistes-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Vor allem aber ist das 1977 veröffentlichte Buch mit dem Titel Gold und Eisen eine spannend zu lesende, literarisch hochwertige Biografie. Und nicht zuletzt auch ein wenig autobiografisch angehaucht.

Bleichröder (1822–1893) war der erste Jude, der in Preußen in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Seine Kinder ließen sich bereits taufen – als Juden betrachtet wurden sie von ihrer Umwelt freilich weiterhin. Eine gewisse Parallele zur eigenen Familie – sein Vater war ein angesehener Arzt in Breslau – ist unübersehbar. Auch diese bewegte sich weiterhin in einem eigenen Milieu, das zu einem guten Teil aus anderen getauften Juden wie dem Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber bestand, nach dem Stern benannt wurde. Seit dem Erscheinen dieses monumentalen Werks über Bleichröder widmete Stern sich vor allem Reden und Aufsätzen. Er wurde ein wahrer Meister dieses Genres, zu dem wichtige Beiträge zu Fritz Haber, Albert Einstein oder auch zum »Feinen Schweigen« der Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus gehörten.

An Anerkennung, die er durchaus genoss, mangelte es Stern nicht. 1987 hielt er die Gedenkrede an den 17. Juni 1953 im Deutschen Bundestag. 1999 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2004 mit der Leo-Baeck-Medaille ausgezeichnet. 2006 erhielt er das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Die Laudatio hielt der damalige Bundespräsident Horst Köhler. Er war Gastprofessor an zahlreichen deutschen Universitäten. Zu Hause blieb er dabei immer in der Claremont Avenue in New York, einen Steinwurf von der Columbia University entfernt, an der er studierte und jahrzehntelang lehrte.

Heine So war Stern ein Wanderer zwischen Welten. Als Protestant aufgewachsen, wurde er als Jude verfolgt. Als Deutscher geboren, starb er als Amerikaner. Wer etwas über sein Leben und das seiner Zeitgenossen erfahren will, der lese seinen Memoirenband Fünf Deutschland und ein Leben (2009). Auch seine Gespräche mit Helmut Schmidt und Joschka Fischer lassen sich in Buchform nachlesen. Das letzte Buch verfasste er mit seiner Frau Elisabeth Sifton über die Widerständler Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi. Seine Heine-Biografie blieb unvollendet.

Was bleibt von Fritz Stern? Vor allem wohl sein Plädoyer, politisches Handeln allein durch die Ratio bestimmen zu lassen. Wer populistischen Rattenfängern nachläuft, bringt die Demokratie in Gefahr. Dies ist die Lehre seiner Bücher zur deutschen Geschichte. Es ist – leider – auch das Phänomen, das er in seinem letzten Interview Ende Januar dieses Jahres anlässlich seines 90. Geburtstags als Gefahr für die Zukunft zu beklagen hatte. Sowohl in Europa als auch in den USA, musste er frustriert feststellen, scheinen wieder Bewegungen im Aufschwung zu sein, denen er lieber als Historiker denn als Zeitgenosse begegnet wäre.

Am Mittwoch vergangener Woche ist Fritz Stern im Alter von 90 Jahren in New York gestorben. Mit ihm, diesem bedeutenden Humanisten, Brückenbauer und Mahner, habe ich einen akademischen Lehrer verloren, der mich zeitlebens geprägt hat.

Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Zuletzt erschien von ihm das Buch »Israel: Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates«.

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