Bücher

Lesen in Zeiten der Pandemie

Foto: Stephan Pramme

»Schlecht für die Gesundheit, gut fürs Schreiben«, behauptet Etgar Keret in einem Interview über den Alltag in Zeiten von Corona. »Ich führe mein Leben so wie immer. Die Menschheit begann, mich nachzuahmen und zu Hause zu bleiben.« In seiner Kurzgeschichte »Draußen« müssen Polizisten und Soldaten an die Tür klopfen, um die Einwohner zu bewegen, ihre Wohnung zu verlassen. Sie haben sich nämlich an den Lockdown gewöhnt.

Kerets Erzählung ebenso wie zahlreiche andere aus der Feder israelischer Autoren in Zeiten der Pandemie wurden digital veröffentlicht, von Zeitungen, Zeitschriften und Institutionen. So konnte man auf der Website des Tel Aviver Stadtrats kostenlos die preisgekrönten Erzählungen des Wettbewerbs »Tel Aviv in Corona-Tagen« lesen.

anstieg Nach offiziellen Angaben hat die Zahl der gedruckten Bücher in Israel 2020 deutlich abgenommen: insgesamt knapp 6500 Bände, 2000 weniger als im Jahr davor. Hingegen notierte man einen starken Anstieg von 73 Prozent im Bereich digitaler Bücher. Zurückgegangen ist die Zahl der Sachbücher, zugenommen hat der Anteil der Prosawerke und der Gedichtbände.

Etwa 70 der gedruckten Bücher – davon 25 für Kinder und Jugendliche – befassten sich mit dem Alltag in Corona-Zeiten. Doch das Hauptthema war und ist die Familie, an zweiter Stelle folgen Eheleben und Zweisamkeit. Die meisten Übersetzungen ins Hebräische im vergangenen Jahr stammen aus dem Englischen (74 Prozent), aus dem Deutschen nur drei Prozent.

Viele Israelis zogen Fernsehen, Net­flix und ähnliche Unterhaltungsangebote vor. Freunde, die jahrelang begeisterte Leser waren, sogar regelmäßig Rezensionen über Neuerscheinungen geschrieben hatten, stellten bei sich nachlassendes Interesse, gar mangelnde Konzentrationsfähigkeit fest. Auf die jährliche »Woche des hebräischen Buches« wurde allerdings in diesem Sommer nicht verzichtet. Wie immer konnten sich dabei Leser und Autoren begegnen und austauschen.

literaturagenten Auch israelische Literaturagenten verzichten nicht darauf, an der Frankfurter Buchmesse teilzunehmen, die dieses Jahr – wenn auch teilweise virtuell – wieder vor Ort stattfindet. Allmählich gibt es wieder Lesungen und Gespräche mit israelischen Autoren in deutschen Literaturhäusern.

Noch vor wenigen Monaten, als Zeruya Shalevs jüngster Roman Schicksal im Berlin-Verlag erschien, fand eine digitale Premiere statt. Die Autorin saß in ihrem Arbeitszimmer in Haifa, die Übersetzerin Anne Birkenhauer in Tel Aviv, die Moderatorin – ohne Präsenzpublikum – im Stuttgarter Literaturhaus.

Viele Israelis schauten lieber Netflix, als dass sie zu Büchern griffen.

Hunderte von Zuschauern folgten der Lesung, nicht nur in Deutschland, sondern sogar auch an so entfernten Orten wie Los Angeles. Ein sonderbarer Abend, denn Shalevs Roman war damals noch nicht in Israel erschienen. So kamen deutsche Leser noch vor den israelischen in den Genuss des Buches. Bald wird Shalev wieder vor Ort in Deutschland zu erleben sein, ebenso wie weitere israelische Autoren, darunter Joshua Sobol und Ayelet Gundar-Goshen.

kurzgeschichten Worum geht es in den hebräischen Kurzgeschichten in der Corona-Zeit? Eine Ehe zerbricht; ein Mann, der aufgekratzt im Haus herumrennt und den Satz wiederholt, man müsse aus Zitronen eine Limonade machen; verzweifelte Eltern und gelangweilte Kinder, die mit 1500 Puzzleteilen gegen die erstickende Langeweile und Tristesse kämpfen. Es sind immer wieder knappe, abgespeckte Texte, Momentaufnahmen aus der Pandemiezeit. Einsamkeit, vermisste Kontakte, Träume und Albträume.

Mal sentimental, mal schräg, gespickt mit Fremdwörtern und tagesaktuellen Begriffen wie Zoom, Skypen oder Live-Porno. Neben Prosa-Miniaturen stehen Gedichte. »Was einst eine Stadt war, ist nun Asche und Staub«, dichtete Eli Eliyahu. Adi Keysar, Mitbegründerin der Gruppe »Ars Poetica«, betitelt ihr Gedicht »Als die Zukunft verschwand«: »Die Tage vergingen über uns / zuerst staunend, danach voller Wut«. Und Noam Partom bleibt in »Sardinen« ihrem eigenwilligen, reizvollen Stil treu: »Ich und er zu Hause eingeschlossen, wie zwei Sardinen in einer Konservenbüchse«. Seit Corona »haben wir die Genderrollenaufgaben gewechselt, und das ist niedlich und sexy«.

Auch hier gilt: Man muss sich nicht die Mühe machen, eine Buchhandlung aufzusuchen; stattdessen kann man die Texte jederzeit auf einem digitalen Gerät lesen, zu Hause wie auch anderswo. Beobachter des israelischen Literaturlebens sprechen von einer »hybriden Corona-Literatur«, die sich durch Entfernung von den gesellschaftlichen Konventionen auszeichnet. Wesentlich ist der performative Aspekt dieser Literatur sowie das unmittelbare Feedback der Leser oder Hörer.

So argumentiert beispielsweise die Wissenschaftlerin Orna Levin, die Kerets digitale Erzählungen untersucht hat, darunter »Oliven oder ein Blues vom Ende der Welt«. Ein typischer Keret-Satz gleich zu Beginn: »Am Tag, an dem die Welt stirbt, esse ich Oliven.« Eigentlich hatte er vor, Pizza zu essen, aber im Supermarkt stand er vor leeren Regalen. Nur sterile Binden und saure Gurken sind da, sagt ihm die Kassiererin. Er zahlt und verzichtet auf das Restgeld. Die Kassiererin bricht in Tränen aus. Was soll sie denn mit dem Geld machen? »Die Welt geht ja zugrunde.« Später, wieder zu Hause, erinnert er sich an die Frau. »Als wir uns umarmten, versuchte ich, klein zu sein, wärmer zu sein, als ich es tatsächlich bin, ich versuchte zu riechen, als ob ich erst in diesem Moment zur Welt gekommen wäre.«

Die Autorin ist Professorin für Hebräische und jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.

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