Art Week Berlin

Lebensfaden des Vaters

»Juifs« (Juden): Dieses Bild von Gil Wolman ensttand 1952. Foto: privat

Juifs (Juden) nennt der französische Künstler Gil Wolman sein im Jahre 1952 entstandenes Bild. Der Titel ist in seiner Schlichtheit Provokation, Anklage und Bekenntnis zugleich. Im Frankreich der Nachkriegszeit waren viele Juden bestrebt, sich zu assimilieren und dem republikanischen Laizismus gerecht zu werden.

Gil Wolman dagegen legte in seiner Kunst die Wunden der europäischen Geschichte bloß: Der Firnis der Zivilisation ist dünn, unter den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verbergen sich die Schrecken der Vernichtung. Der Elke und Arno Morenz Collection (EAMC) ist es zu verdanken, dass anlässlich der Art Week in Berlin dieses beeindruckende Bild eines nach wie vor fatal unterschätzten Künstlers der Postwar -Avant-Garde gezeigt wird.

KOLLEKTIVKUNST Die Sammlung hat einen expliziten Fokus auf jüdische Künstler: Isidore Isou, der Begründer des Lettrismus, ist dort ebenso vertreten wie Maurice Lemaître. Zugleich beleuchtet sie das Werk kommunistischer Künstler wie Guy Debords, der mit der Begründung der Internationale Situationniste ein scharfer Kritiker einer Gesellschaft des Spektakels wurde und nur mehr politisch engagierte Kollektivkunst gelten lassen wollte. Sie dokumentiert damit auch die ideologische Kluft, die sich innerhalb linker künstlerischer Bewegungen auftat: Ignoranz gegenüber Antisemitismus, verschwörungstheoretische Spekulationen und die Vergötterung des Kollektivs.

Gegen das Vergessen vorzugehen, bedeutete für Wolman, der Vergangenheit einen neuen Atem einzuhauchen.

Während Guy Debord Tabula Rasa machen wollte und die Kunst dem Untergang weihte, suchte Wolman nach den historischen Wurzeln der Zerstörung. Das System seelenloser Zeichen und die Errichtung einer Struktur bar menschlichen Atems und göttlichen Odems sind für ihn die Pfeiler einer destruktiven Gesellschaft. Die gelb-schwarzen Ölspuren auf Holz zeigen die Irrwege deutscher Kultur, indem Hakenkreuze dekonstruiert werden und ausweglos in Vernichtungslager führen.

STRICKWAREN Wolman begibt sich in diesem Bild auch auf die Suche nach dem Vater, ein Strickwarenfabrikant, der deportiert und ermordet wurde. Nach dem Tode des Vaters führte die Mutter das Unternehmen fort. Der Sohn verdingte sich als Stricker von Pullovern seinen Lebensunterhalt. Er spann damit den Lebensfaden des Vaters fort, auf dessen Deportationskarte »Stricker« eingetragen war. Das Weben und Spinnen machte er später auch zu seinem künstlerischen Ansatz. Zeichen verwob er zu Schriftgeweben. Auf nebelhaften Hintergründen brachte er mittels Tesastreifen (Scotch Art) Zeichen von verschiedenen Druckerzeugnissen auf und zeichnete seine eigenen Linien der Erinnerung.

Gegen das Vergessen vorzugehen, bedeutete für Wolman, der Vergangenheit einen neuen Atem einzuhauchen. Dieser Atem aber konnte für ihn nur ein jüdischer sein: Wolmans Trennung von Konsonanten und Vokalen bezog sich auf das Hebräische, die Sprache der Konsonanten. Mit seiner Poesie des Atems, Mégapneumes genannt, verbindet er sich mit der Kraft der heiligen Sprache. Die Seele, die belebende Kraft, im Hebräischen neshama (נשמה) genannt, leitet sich vom Verb nasham (נשם), zu Deutsch atmen, ab. Nationalsozialistischen Organigrammen der Ausmerzung setzte er organisches Wachstum und den Atem der Menschlichkeit entgegen.

In der letzten von ihm gegründeten Bewegung, dem »Separatist Movement« aus dem Jahre 1977, fand er sich als einziges Mitglied wieder.

Dieser spirituelle Ansatz isolierte ihn von seinen kommunistischen Compagnons. Sein tiefes Misstrauen gegenüber dem Kollektiv und der Kampf gegen das Verschwinden des Individuums trug weiters zu seinem künstlerischen Einzelgängertum bei. In der letzten von ihm gegründeten Bewegung, dem »Separatist Movement« aus dem Jahre 1977, fand er sich als einziges Mitglied wieder.

Gil Wolman ist der sinnlichste, aber auch der spirituellste der frühen Wortkünstler. Poesie obsiegte für ihn über Theorie, Historie über Utopie. Seine Weigerung, sich im Kollektiv aufzulösen und die Kunst politischem Aktivismus zu unterwerfen, ist ein Faden, an den auch heutige Künstler anknüpfen können. Die Kunst nicht totzusagen, sondern ihr einen neuen Atem einzuhauchen, ist ein widerständiger Akt. Am Anfang aber kann nicht das Kollektiv, sondern nur das Individuum stehen oder wie Gil Wolman sagen würde: »Am Anfang war Wolman.«

Die Ausstellung wird am 11. September um 19 Uhr eröffnet.

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