Buch

Lauter Einzelfälle

Foto: Dietz Verlag

Buch

Lauter Einzelfälle

Niklas Frank erzählt von der missglückten »Entnazifizierung«

von Martin Jander  04.07.2017 10:37 Uhr

Die Entnazifizierung geriet in beiden Teilen Deutschlands zum Desaster. In den meisten Publikationen dazu stand die Politik der Alliierten nach 1945 im Mittelpunkt. Die deutsche Gesellschaft und ihr Umgang mit der Entnazifizierung gerieten etwas aus dem Blick. Ganz anders in dem neuen Buch des Journalisten Niklas Frank.

Frank hat sich in den Staatsarchiven der deutschen Bundesländer Entnazifizierungsakten geben lassen und erzählt ihre Geschichten. »Um 70 Jahre nach Kriegsende das wieder gefährlich auftrumpfende Wesen der Deutschen verstehen zu können, suchte ich – ganz unwissenschaftlich – in wahllos herausgegriffenen Einzelfällen nach Beweisen, warum die deutsche Mistkugel wieder auf dieser ausgefahrenen Spur entlangzurollen beginnt.«

verzerrung Zum Beispiel die Geschichte »Schauspielerische Glanzleistung«. Der Autor fand in einer Akte eine Meldung aus der »Welt« vom 10. Mai 1947. Unter der Überschrift »Werner Krauß entlastet« heißt es dort: »Der Schauspieler Werner Krauß wurde von der Spruchkammer in Stuttgart in die Gruppe der Entlasteten eingereiht. Die vier Rollen in dem Film Jud Süß habe er übernommen, erklärte Werner Krauß während des Spruchkammerverfahrens, um eine etwaige antisemitische Verzerrung durch vier verschiedene Schauspieler zu verhindern.« Frank kommentiert diese Meldung nur knapp: »Charakterlose Glanzleistung«.

Ungezählte solcher »Einzelfälle« werden erzählt. Frank resümiert, wissenschaftliche Zusammenfassungen ironisierend, in fünf Punkten: Studenten hätten ein »brodelndes Reservoir an Übeltätern« gebildet, Facharbeiter die Tendenz gehabt, sich »in kleinen Parteiämtern« wie Himmler und Streicher aufzuführen, zwei Drittel aller Denunzianten seien Denunziantinnen gewesen, die »feigsten Lügengespinste« hätten Gymnasiallehrer gewoben, und der Inhalt von Entnazifizierungsakten aus dem Süden Deutschlands sei »hinterfotziger und gemeiner« als derjenigen aus dem Norden.

Frank gelingt dabei mehr, als er für sich beansprucht. Aber dennoch fehlt diesem bedrückenden Bild ein entscheidendes Element. Frank betritt die Welt der überlebenden Opfer und Widerständler nach 1945 nicht. Täterkinder, die dies tun, kanzelt er harsch ab. Es fehlt diesem Buch der Versuch, sich auf die Geschichten der überlebenden Opfer einzulassen. Die Welt der verweigerten Rückgabe von Eigentum, der nicht entschädigten Schäden an Leib und Seele, der nicht bezahlten Sklavenarbeit, des Hasses auf Israel, oder gar der fortdauernden Entrechtung etwa der Sinti und Roma.

traditionen Das ist schade. Wie bereits mit seinen vorherigen Büchern (Der Vater, 1987, Meine deutsche Mutter, 2005, Bruder Norman!, 2013) macht Frank mit dunkle seele – feiges Maul den Versuch, verinnerlichte Haltungen des Nazismus exemplarisch vorzuführen, kommentierend zu überwinden und zu zeigen, wie wirkmächtig sie bis heute sind. Franks Thema sind die gewalttätigen, antihumanen, antizivilisatorischen Traditionen Deutschlands nach der Schoa.

Zu diesen Traditionen gehören jedoch nicht nur Hass, Missgunst und Neid, sondern auch verweigertes Mitgefühl, Gefühlskälte, Unfähigkeit zu Reue, Scham und Versöhnung. Wer wie Frank »siebzig Jahre nach Kriegsende das wieder gefährlich auftrumpfende Wesen der Deutschen« beschreiben will, muss dessen zweite Seite – die fehlende Empathie – mit in den Blick nehmen.

Niklas Frank: »dunkle seele – feiges maul. Wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen«. Dietz, Bonn 2016, 579 S., 29,90 €

Forum

Leserbriefe

Kommentare und Meinungen zu aktuellen Themen der Jüdischen Allgemeinen

 28.12.2025

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Nach zwölf Jahren kommt nun die Fortsetzung des Weltbestsellers ins Kino

von Peter Claus  25.12.2025

ANU-Museum Tel Aviv

Jüdische Kultobjekte unterm Hammer

Stan Lees Autogramm, Herzls Foto, das Programm von Bernsteins erstem Israel-Konzert und viele andere Originale werden in diesen Tagen versteigert

von Sabine Brandes  25.12.2025

Menschenrechte

Die andere Geschichte Russlands

»Wir möchten, dass Menschen Zugang zu unseren Dokumenten bekommen«, sagt Irina Scherbakowa über das Archiv der von Moskau verbotenen Organisation Memorial

 25.12.2025

Rezension

Großer Stilist und streitbarer Linker

Hermann L. Gremliza gehört zu den Publizisten, die Irrtümer einräumen konnten. Seine gesammelten Schriften sind höchst lesenswert

von Martin Krauß  25.12.2025

Glastonbury-Skandal

Keine Anklage gegen Bob-Vylan-Musiker

Es lägen »unzureichende« Beweise für eine »realistische Aussicht auf eine Verurteilung« vor, so die Polizei

 24.12.2025

Israel

Pe’er Tasi führt die Song-Jahrescharts an

Zum Jahresende wurde die Liste der meistgespielten Songs 2025 veröffentlicht. Eyal Golan ist wieder der meistgespielte Interpret

 23.12.2025

Israelischer Punk

»Edith Piaf hat allen den Stinkefinger gezeigt«

Yifat Balassiano und Talia Ishai von der israelischen Band »HaZeevot« über Musik und Feminismus

von Katrin Richter  23.12.2025

Los Angeles

Barry Manilow teilt Lungenkrebs-Diagnose

Nach wochenlanger Bronchitis finden Ärzte einen »krebsartigen Fleck« in seiner Lunge, erzählt der jüdische Sänger, Pianist, Komponist und Produzent

 23.12.2025