Mitgefühl und Gespräch - statt Gleichgültigkeit und Schweigen: Auf dieses Rezept läuft vieles hinaus in dem neuen Buch des jüdischen Historikers und Publizisten Rafael Seligmann. Es ist autobiografisch geprägt und widmet sich darüber hinaus brandaktuellen Themen wie Antisemitismus und anderen Folgen des 7. Oktober 2023 für Jüdinnen und Juden in Deutschland und anderen Staaten.
Das geschieht in allgemeiner Betrachtung, aber auch aus Seligmanns persönlichem Erleben heraus. Diese Mischung macht das Buch spannend, und zuweilen gilt es, größere Sprünge zwischen diesen beiden Ebenen zu bewältigen. Seligmanns dezidierte Meinungen geben darüber hinaus Denkanstöße, unabhängig davon, ob man ihnen folgen möchte.
»Keine Schonzeit für Juden. Die Antwort eines Betroffenen« lautet der Titel des Bandes, der heute im Freiburger Verlag Herder erscheint. »Dieses Buch soll dazu beitragen, dass wir alle uns besser verstehen«, heißt es an die Adresse von Nichtjuden und Juden - so einfach und doch so kompliziert. Denn das Sich-besser-Verstehen kann ein sehr großes Unterfangen sein, wie die Lektüre - und letztlich auch das Leben selbst - zeigt.
»Den Anständigen«
Gewidmet ist die Neuerscheinung namentlich genannten »Anständigen«. Denn sie gibt es nach Erfahrung des Autors, der 1947 in Tel Aviv geboren wurde und als Kind mit seiner Familie zurück nach Deutschland ging, durchaus. Auch wenn er ein eher düsteres Bild von oft fehlender Solidarität mit Jüdinnen und Juden zeichnet, die er nicht erst seit dem 7. Oktober mit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel und dem anschließenden Gaza-Krieg beobachtet.
Seligmanns Bestandsaufnahme diesbezüglich lautet: Die Attacken hätten die Menschen in Israel traumatisiert. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kämpfe um sein politisches Überleben. Das alles rechtfertige nicht eine »kollektive Bestrafung« der palästinensischen Zivilbevölkerung.
Eine Blockade von Medikamentenlieferungen und Lebensmitteln in den Gazastreifen sei illegitim. Selbstverteidigung sei rechtens und werde von allen Staaten beansprucht. »Die Bewertung des israelischen Abwehrkrieges als Völkermord ist maliziös«, so der Autor.
Ängste zerstören Seelen
Das Buch beleuchtet die Kritik in Deutschland und anderswo am militärischen Vorgehen Israels im Gazastreifen und nimmt auch islamistische Kräfte in den Blick. Seligmann schreibt: »Ihre Betroffenheit sollte die Empörten allerdings nicht übersehen lassen, dass ihr Zorn nicht Israel trifft, wo hunderttausendfach gegen die Regierungspolitik demonstriert wird, sondern in erster Linie die ohnmächtigen Juden der Diaspora.«
Die sich als Folge davon zunehmend aus Angst zurückzögen, was Seelen zerstöre. Dagegen könnten Dialog und konstruktiver Streit helfen, empfiehlt der Autor. Voraussetzung sei, dass auch die andere Seite dazu bereit sei. Seligmann selbst ist dazu bereit, wie man immer wieder in seinen publizistischen Beiträgen und in den reichhaltigen Erinnerungen in dem neuen Buch nachlesen kann.
Da geht es zum Beispiel um den Umzug seiner Familie, die zahlreiche von den Nazis ermordete Verwandte zu beklagen hat, nach Deutschland (»Dort drückte mich Germania an ihren kalten Busen - bis jetzt verharren wir in dieser unlösbaren Umarmung«). Seine Schulzeit in München als Außenseiter, der antisemitisch beschimpft wurde. Sein Studium und seine Tätigkeit als Schriftsteller und Publizist sowie sein Engagement.
Funken von Hoffnung
So ist ein gesamtes Kapitel der mittlerweile eingestellten »Jewish Voice from Germany« gewidmet, die Seligmann seinerzeit auf den Weg gebracht hat.
Das Buch vertieft oder streift viele Aspekte, zeigt Enttäuschung und Resignation, aber auch Funken von Hoffnung, zum Beispiel was »die Anständigen« betrifft, die Jüdinnen und Juden gegenüber Solidarität zeigen. Aus Seligmanns Sicht gibt es davon aber zu wenige.
Sein düsteres Fazit: Deutschland sei gegenwärtig nicht der richtige Ort für eine »Renaissance« jüdischen Lebens - obwohl es günstige historisch-soziale Voraussetzungen gebe. Die Bevölkerungsmehrheit nutze dies nicht aktiv und lege eine träge Haltung an den Tag. »Liebe und Verstand lassen sich nicht verordnen.« (mit ja)