Wunderkind

Junger Lustmolch

»Ich beschäftige mich obsessiv mit Sex und Erotik – aus Angst vor dem Alter«: Adam Thirlwell, 32 Foto: getty

Wunderkind

Junger Lustmolch

Eine Begegnung mit dem britischen Romanautor Adam Thirlwell

von Marko Martin  13.12.2010 14:55 Uhr

Nein, wie ein Adonis wirkt er nicht gerade, dieser verblüffende Experte in Sachen Liebe, Lust und Leidenschaft. Das Gesicht zerknautscht, die Augen in dicken Tränensäcken hängend. Das Haar ein konfuses Etwas, die Wangen irgendwie umherlappend, und das Jäckchen über dem T-Shirt auch nicht gerade die Inkarnation eines Blickfangs. Für einen Zweiunddreißigjährigen irgendwie jungenhaft, denkt man.

dreieck Strategie war der Titel von Adam Thirlwells gefeiertem Debütroman 2003, eine erotisch-philosophische Dreiecksgeschichte, die jenen schenkelklopfend Unbedarften rote Ohren verschafft haben dürfte, die in völliger Verkennung der Kombinationsherausforderungen dieses physischen Genres die tumbe Rede »vom flotten Dreier« führen. Jetzt hat der 1978 in London geborene und bereits mehrfach preisgekrönte jüdische Schriftsteller und Oxfordabsolvent mit Flüchtig einen zweiten Roman veröffentlicht. Erzählt (und der Ich-Erzähler mischt sich in der Tat permanent kommentierend ein) wird hier die Geschichte des 78-jährigen Ex-Bankers und Dauer-Schwerenöters Raphael Haffner, der auch im Spätherbst seines Lebens nicht von den Frauen lassen kann. Vermögend und verwitwet, von der eigenen Tochter als Ego-Monster gescholten, vom übergewichtigen Enkelsohn (der in Israel gerade die Religion studiert und doch ebenfalls viel lieber das Laster entdecken würde) in einer Mischung aus Abscheu, Neid und uneingestandener Komplizenschaft observiert, verlässt der Romanheld London und begibt sich – vorgeblich zu einer Kur – in die östlichen Teile des Kontinents. Das Land wird nicht namentlich genannt. Wir erfahren lediglich, dass einst die Nazis und dann die Kommunisten darüber hergefallen waren, dass es bergig ist und (ein zweiter Grund für Haffners Visite) dass irgendwo am Rand des nur mäßig schicken Kurorts eine Ferienvilla existiert, die der Familie von Haffners verstorbener Frau zuerst von den Braunen, dann von den Roten gestohlen worden war.

altersgeil Thirlwells Held Haffner ist erzbritisch (und wird doch von seiner Up-per-class-Umwelt immer wieder pseudo-naiv nach seinen jüdischen Wurzeln be-fragt), dazu ein treuer Schürzenjäger, der am Abend seines Lebens das Fazit zieht: »Wenn er seine Frauen addierte, stellte er fest, im Grunde nur zwei gehabt zu haben: Erstens seine Gattin Livia und zweitens alle anderen.«

Diese vorwitzige Lakonie des Stils macht die Lektüre zu einem Vergnügen, genauso wie Haffners eskapistischer Charakter und die burleske Situationskomik, die den Mann ohne tragische Eigenschaften alsbald umfängt – nicht zu vergessen die forschen Kommentare des jungen Ich-Erzählers, der sich wie ein mutwilliger Gott über den Alten und sein Treiben beugt. »Ja, meine Damen und Herren, Haffner hatte Format. Er hatte begriffen, dass die Sinne wichtiger waren als der Sinn für den Ernst des Lebens. Also fiel es ihm schwer, Frauen abzuweisen, die in seine Umlaufbahn eintraten. Denn hätte es nicht von Hybris gezeugt, die Kunstfertigkeit des Zufalls zu verleugnen?«
Ängste Wie kommt ein 32-Jähriger auf die Idee, sich in die Gefühlswelt eines gealterten Don Juan zu begeben? Adam Thirlwell verändert die an ein Komma erinnernde Haltung, mit der er sich auf seinem Stuhl gelümmelt hatte, und strafft sich ein wenig zu einer Art Doppelpunkt: »Weil es meine eigenen Ängste sind. Ich fürchte Krankheit und Alter, seit ich denken kann. Deshalb auch meine obsessive Beschäftigung mit Sex und Erotik. Wobei es natürlich von Vorteil ist, in unseren Jahren über so etwas zu schreiben. Tun es Betagtere, wie Philip Roth in Exit Ghost, dann tobt sogleich die Kritikermeute und mokiert sich über eine angebliche ›Altmännergeilheit‹. Aber was heißt das denn? Soll man im Alter etwa zu begehren verzichten? Man hört ja schließlich auch nicht auf, zu essen und zu trinken.«

Haffner verguckt sich also, während die Villa-Rückerstattungspläne an der ostmitteleuropäischen Bürokratie zu scheitern drohen, in seine Yoga-Lehrerin, die ihn schließlich (eher aus Überdruss denn Lust) tatsächlich erhört und in seinem eigenen Jogginganzug ans Bett fesselt. Selbstverständlich aber kommt es zu keinem Happy End, denn just in dem Moment taucht plötzlich – in vorgeblicher Sorge um den außer Rand und Band geratenen Großvater – der füllige Enkel aus Israel auf. »Der Geist der Jugend war der Geist des Kleinbürgertums: Unglaublich strafend, ungeheuer neidisch, übermäßig rasch im Urteil.«

Was zu der Frage führt, weshalb wir denn, so Thirlwell, »in Sachen Erotik und Literatur inzwischen so unglaublich konservativ geworden sind«. Gegenfrage des Journalisten: Kommen dafür nicht gleich mehrere Gründe zusammen? Ein allein auf ökonomische Verfügbarkeit rekurrierender Liberalismus, politische Korrektheit als spießigstes Erbe von ‹68, ganz zu schweigen von der gewaltbereiten Bigotterie bestimmter muslimischer Einwanderermilieus? Doch auf dieses Minenfeld will sich der ansonsten so tabubrecherische Autor dann doch nicht wagen. Auch auf die immerhin naheliegende Frage nach den gegenwärtig in Großbritannien gern gepflegten Ressentiments gegen Israel, die Großvater und Enkel Haffner auf so ärgerliche Weise zusetzen, kommt vorsichtshalber keine Antwort. So endet denn die Begegnung. Oder wie es im Roman heißt: »Dann trat eine kurze Stille ein, und die Welt kam auf betrübliche Weise wieder ins Lot.«

Adam Thirlwell: »Flüchtig«. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2010, 383 S.,19, 95 €

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