Literatur

Jakob Frank, der falsche Messias

Olga Tokarczuk widmet sich auf mehr als 1000 Seiten der Geschichte des Mystikers Jakob Frank. Foto: imago images/ZUMA Press

Geschichten von Außenseitern und Grenzgängern sind immer besonders reizvoll und bieten genau den Stoff, den Roman­autoren gerne aufgreifen. Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk greift in ihren Jakobsbüchern eine solche Figur auf. Aber Jankiew Lejbowicz, der später als Jakob Frank bekannt wurde, war mehr als ein Außenseiter.

Er wurde in vielerlei Hinsicht zum Grenzüberschreiter. 1726 in Galizien geboren, wurde er zum Kopf einer messianischen Bewegung – mit sich als Messias. Die »Sohariten«, später »Frankisten« genannt, hatten einen indirekten Einfluss auf die Entwicklung des Judentums in ihrer Zeit, denn die Schockwellen waren überall zu spüren.

Gershom Scholem nannte Frank »eine der abstoßendsten Erscheinungen der jüdischen Geschichte«. Auf einer Reise ins Osmanische Reich befasste sich Lejbowicz mit den Anhängern des »Schabbatai Zwi«, denn schon seine Eltern sahen in diesem den Messias. Schabbatai Zwi konvertierte dann aber zum Islam und starb schließlich in Gefangenschaft.

verkörperung Das tat der Verehrung seiner Person keinen Abbruch – da knüpfte Frank an und erklärte sich später zur letzten Verkörperung ebenjenes Messias. Er erklärte seinen Anhängern, zuvor habe sich dessen Seele in David, Elias, Jesus, Mohammed und Schabbatai Zwi verkörpert.

Im Jahr 1755 ging Frank nach Polen und verkündete dort zunächst, er sei gekommen, um der Welt das ewige Leben zu bringen. Später dann verkündete er, Polen, damals ein Staat mit vielen Völkern, sei das verheißene Land. Natürlich nahmen die Rabbiner Polens Abstand von den Frankisten, aber die Bewegung bestand weiter fort.

Frank orientierte sich schnell um und wandte sich der christlichen Kirche zu. In Warschau ließ er sich taufen, zog nach Wien und später nach Offenbach. Dort logierte er mit seinen Anhängern im Isenburger Schloss. Bis er verstarb, seine Tochter Eva als »heilige Jungfrau« dort herrschte und als Verkörperung der »Schechina« galt.

Tokarczuk überschreitet literarisch und sprachlich Grenzen oder löst sie vollständig auf.

So weit die Geschichte des »historischen« Frank. Die überlieferten Details seines »Wirkens« machen hellhörig. Frank soll das jüdische Religionsgesetz auf den Kopf gestellt haben – er forderte die Abkehr davon. Es habe Orgien unter seinen Anhängern gegeben, und um sich bei den Behörden des jeweiligen Landes besserzustellen, habe er sogar bezeugt, Juden würden Blut für Mazzen verwenden. Wenn es eine Grenze gab, hat Frank sie aus Prinzip überschritten. Die jüdischen Quellen schildern Franks Zurückweisung der Tradition natürlich mit Abscheu – der Prototyp eines Häretikers.

FORM Als ob Olga Tokarczuk der Figur, Zeit und Ort gerecht werden wollte, überschreitet sie literarisch und sprachlich Grenzen oder löst sie vollständig auf. Das beginnt bei der Form von Tokarczuks Erzählung, erstreckt sich über die sprachliche Ebene bis hin zur inhaltlichen.

Einen Teil der Erzählung übernehmen Briefe in einer historisierenden Sprache, dann wieder ein allwissender Erzähler in moderner Sprache. Eine besondere Perspektive bringt die Figur Jenta ein, eine alte Frau, deren Seele sich zwischen Leben und Tod befindet, wodurch sie die Grenzen von Zeit und Raum überwinden kann. So reist sie zurück in der Zeit und beobachtet sogar ihre eigene Zeugung. Magie und Aberglaube diffundieren in die alltägliche Welt und ergeben eine dichte Atmosphäre.

Es gibt einfach keine Gewissheit, wegen der verschiedenen Perspektiven.

Selbst Vertreter der Aufklärung bleiben dieser Welt verhaftet. Etwa Pater Benedykt Chmielowski, der Verfasser der ersten polnischen Enzyklopädie, den es tatsächlich gegeben hat. Derjenige, der im Namen der Aufklärung mit seiner Enzyklopädie handelt, kann sich nicht vorstellen, dass jemand die Bibel nicht wörtlich nimmt oder dass fantastische Geschichten vielleicht nicht wahr sein könnten.

Und auch sprachlich verlaufen die Grenzen ineinander. Ein Pater spricht Polnisch mit zahllosen lateinischen Lehnwörtern, weil ihm die polnische Sprache zu unpräzise erscheint. In Ostpolen findet er aber nicht viele Menschen, die ihn überhaupt verstehen, weil hier die Bevölkerung nicht ausschließlich aus Polen besteht.

Die jüdischen Figuren verwenden zahlreiche jiddische oder hebräische Begriffe – später kommt noch Ladino hinzu. Auch Altkirchenslawisch wird zitiert. Die Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein haben hier das polnische Original so übersetzt, dass sie auch den zahlreichen jüdischen Kontexten gerecht werden konnten. Auch literarisch scheinen sich historische Texte mit dem Material zu mischen, das Tokarczuk für diesen Roman geschrieben hat – gerade zur jüdischen Mystik und zur Kabbala.

EUROPA Auch Landesgrenzen werden mühelos überschritten. Türken ziehen durch Podolien, armenische Händler, befreite polnische Bauern oder Ukrainer. Einer dieser Bauern wiederum versteckt sich bei einer jüdischen Familie und löst die vorgesehene gesellschaftliche Trennung auf. Die Anhänger des »hergebrachten« Judentums leben neben jenen, die dem neuen Messias folgen wollen.

Trotz der politischen Teilung scheinen wir auf ein »richtiges« Europa zu blicken, denn die Landesgrenzen sind nur theoretische Konstrukte in dieser Welt. Zwischen Baltikum, Offenbach und Smyrna (Izmir) bewegen sich die Figuren in diesem Roman, in dem nichts sicher scheint. Menschen werden vertrieben, getötet oder ändern ihre Konfession, weil sie sich ein besseres Auskommen versprechen.

Selbst die gesellschaftlichen Hierarchien werden von Frank durchbrochen. Der Underdog hält am Ende seines Lebens Hof in einem Schloss. Auf diese Weise wird geschildert, in welcher Gedankenwelt sich die Protagonisten bewegen, aber auch eine Multiperspektivität erreicht, die dem Leser Gewissheit nimmt, statt ihn in Sicherheit zu wiegen. Und das funktioniert auch bei Jakob Frank.

Ist er ein geschickter Schwindler oder tatsächlich selbst von seiner Mission überzeugt? Tut er tatsächlich Wunder, oder ist er ein Scharlatan? Er gibt einfach keine Gewissheit, wegen dieser verschiedenen Perspektiven. Niemand ist nur »Opfer« dieser unruhigen Zeit. Juden sind hier handelnde Figuren und nicht reine Projektionsfläche für romantische Vorstellungen. Obwohl es anspruchsvolle, intertextuelle Literatur ist, sind die Jakobsbücher ein empfehlenswerter »Pageturner«.

Olga Tokarczuk: »Die Jakobsbücher«. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa, Zürich 2019, 1184 S., 42 €

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