Exil

In der Todesfalle von Marseille

Ein beeindruckender Panoramaroman

von Marko Martin  22.10.2022 18:50 Uhr

Der französische Schriftsteller Jean Malaquais (1908–1998) Foto: ullstein bild - Roger-Viollet / Albert Harlingue

Ein beeindruckender Panoramaroman

von Marko Martin  22.10.2022 18:50 Uhr

Endlich auch auf Deutsch: Der Flucht- und Exilroman Planet ohne Visum ist ein Jahrhundert-Buch und dabei mehr als lediglich ein literarisches Ereignis. Der Autor Jean Malaquais wurde 1908 als Wladimir Malac­ki in einer jüdischen Familie in Warschau geboren, wanderte mit 17 Jahren aus, zog durch die Welt, wurde schließlich in Frankreich heimisch und unternahm dort erste Schreibversuche, auf die kein Geringerer als André Gide aufmerksam wurde.

In Anspielung auf den Pariser Seine-Quai nannte er sich nun Jean Malaquais. Für seinen sozialkritischen Erstling Les Javanais wurde er 1939 mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet. Als unorthodoxer Linker ging er 1940 in den Untergrund und floh drei Jahre später via Marseille nach Venezuela und Mexiko ins Exil.

Über welche Stilmittel und Menschenkenntnis verfügt dieser Autor!

Bereits dies wäre eine Jahrhundertgeschichte, doch der Mann, der danach in den Vereinigten Staaten Freundschaft mit dem Schriftsteller und Regisseur Norman Mailer schloss (und dessen Roman Die Nackten und die Toten ins Französische übersetzte) und hochbetagt 1998 in Genf starb, hat seine Autobiografie nie geschrieben. Vielleicht war es ja so, dass er mit seinem mehr als 600-seitigen Roman Planet ohne Visum, an dem er bereits 1942 in der Illegalität zu arbeiten begonnen hatte und der schließlich 1947 in Paris erschien, alles gesagt, das heißt: alles erzählt hatte, was berichtenswert war über seine Zeit.

Seltsam, dass dieses Werk, das er vor seinem Tod noch einmal ergänzt und stilistisch verfeinert hat, erst jetzt auf Deutsch erscheint – und das nicht etwa in einem der großen Verlagshäuser, sondern in der Hamburger Edition Nautilus.

CHANGIEREN Umso größer ist die Verblüffung und Lesefreude, mit welch sprachlicher Sorgfalt die Übersetzerin Nadine Püschel, die auch das kenntnisreiche Nachwort beigesteuert hat, Malaquais’ rasant wechselnde Tonlagen, sein Changieren zwischen Rhapsodie und Reportage, Essay und Bewusstseinsstrom, Chronik, Dialogen und einem gleichsam literarisierten Film noir aus dem Französischen übertragen hat.

Aber was wird hier erzählt aus jener Zeit, als das Vichy-Regime mit Nazi-Deutschland kollaborierte und Marseille in der bis zum November 1942 noch sogenannten Freien Zone längst kein sicherer Hafen mehr war, sondern ein Ort der Verzweiflung für so viele vor allem jüdische Flüchtlinge, die auf Ausreisevisa hofften?

Hatte man nicht geglaubt, über diese Jahre und diesen Ort schon fast alles zu wissen – aus Axel Cortis Verfilmung der Fluchtgeschichte Georg Stefan Trollers, aus Anna Seghers’ hochberühmtem Roman Transit oder aus Auslieferung auf Verlangen, dem packenden Bericht des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry, dem unter anderem Marc Chagall, Lion Feuchtwanger, Hans Sahl, Heinrich und Golo Mann und Alma Mahler-Werfel ihr Leben verdankten?

zusammenbruch Während Hans Sahl dann nahezu der einzige deutsche Emigrant war, der Varian Frys in seiner Autobiografie gedachte, ist dieser bei Jean Malaquais gar zur literarischen Figur geworden: als Aldous J. Smith, der in seinem Büro bis an den Rand des psychischen und körperlichen Zusammenbruchs versucht, so viel wie möglich Arbeitsbescheinigungen, Visa, Affidavits und Schiffspassagen zu besorgen, um Menschen zu retten.

Einer von ihnen war der russische Revolutionär, Gulag-Überlebende und Romancier Victor Serge, der hier im Buch Ivan Stépanoff heißt. Unter anderen Namen tauchen in der Handlung auch André Gide sowie der dissidente Kommunist Marc Chirik auf.

Planet ohne Visum (der Titel wiederum ein Zitat aus Leo Trotzkis Autobiografie) ist jedoch keineswegs ein Schlüsselroman, der damals nur Eingeweihten und heute lediglich Experten verständlich wäre. Und so viel im Buch auch debattiert wird über Religion und jüdischen Widerstand, über Geschlechterfragen oder Aufstieg und Zerfall der kommunistischen Idee – Jean Malaquais ist ebenso der Gefahr eines Thesen-Romans entgangen.

WORTWECHSEL Gerade deshalb: Von den mitunter heftigen Wortwechseln dieser höchst gefährdeten und doch innerlich freien Menschen lesend, dämmert die Erkenntnis, dass Anna Seghers’ bis dato als der Exilroman betrachtetes Transit gleichsam wie mit angezogener Handbremse geschrieben war – politisch, aber auch literarisch.

Jean Malaquais ist der Gefahr eines Thesen-Romans entgangen.

Denn über welche Menschenkenntnis und Stilmittel verfügt dieser in Warschau geborene Autor, wie tief und niemals didaktisch gräbt er sich in die Seele kollaborierender französischer Provinz-Notablen und diabolischer Kommissare, wie prägnant ist das seelisch Verkantete deutscher Offiziere beschrieben, wie lebendig die Dialoge, wie plausibel die Verfolgungsjagden durch die Gassen Marseilles und wie psychologisch nuanciert die inneren Konflikte seiner Heldinnen und Helden, so etwa der sprachbehinderten Marianne und der zwischen Engagement und emotionaler Bedürftigkeit wie zerrissenen Anne-Marie. Menschen, die man nach der Lektüre dieses großen, weil nie großtuenden Romans nie wieder vergessen wird.

Es ist, als hätten Döblins Berlin Alexanderplatz und John Dos Passos’ Manhattan Transfer längst ein ebenso herausragendes Pendant. Höchste Zeit, Planet ohne Visum nun auch hierzulande zu entdecken.

Jean Malaquais: »Planet ohne Visum«. Aus dem Französischen von Nadine Püschel. Edition Nautilus, Hamburg 2022, 661 S., 32 €

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