Redezeit

»Ich wurde von Lebenslust durchflutet«

Zeruya Shalev: »Ich bin eine hoffnungslose Pessimistin, die es liebt, eines Besseren belehrt zu werden.« Foto: Eric Sultan

Frau Shalev, in Ihrem neuen Buch »Für den Rest des Lebens« geht es wie in den Vorgängerromanen um moderne Beziehungen, die von Frust und Enttäuschung geprägt sind. Am Ende fügt sich alles ganz unerwartet zum Guten. Sind Sie eine enttäuschte Idealistin, die nicht aufhören mag zu träumen, oder eine optimistische Realistin?
Weder noch. Ich bin eine hoffnungslose Pessimistin, die es liebt, eines Besseren belehrt zu werden. Vielleicht scheint diese Einstellung im Roman durch. Er beginnt ziemlich dunkel, gegen Ende wird es stetig heller. Auch wenn alle Bemühungen vollkommen aussichtslos erscheinen, riskieren es die drei Hauptfiguren, ihre Lebensträume nicht länger zu ignorieren.

Würden Sie sagen, dass es nie zu spät ist, sein Leben zu ändern?
Das ist meine feste Überzeugung. Nichts ist für den Rest des Lebens vorherbestimmt. Wir können jeden Tag mit der Vergangenheit brechen und etwas Neues beginnen.

Inwiefern sprechen Sie aus eigener Erfahrung?
Die Romanhandlung ist eng mit meiner eigenen Biografie verknüpft. Ich weiß, wie es ist, existenziell verzweifelt zu sein. Anfang 2004 sprengte sich in Jerusalem ein Selbstmordattentäter direkt neben mir in die Luft. Als ich nach einigen Wochen körperlich wieder einigermaßen wohlauf war, geriet ich in eine schwere Krise. Ich war monatelang davon überzeugt, nie wieder ein normales Leben führen zu können.

Wie haben Sie es dennoch geschafft?
Von einem bestimmten Punkt an wurde ich völlig unerwartet geradezu von Lebenslust durchflutet. Nicht trotz, sondern wegen des Terroranschlags.

Wie machte sich das bemerkbar?
Der Attentäter wollte mich auslöschen. Ich verstand, dass die einzige Antwort darauf ein klares Bekenntnis zum Leben sein musste. Aus diesem Grund adoptierte ich, wie die Protagonistin Dina in meinem Buch, ein Kind. Dadurch änderte sich alles. Durch dieses Bekenntnis zum Leben wendete sich alles plötzlich wieder zum Guten.

Dina projiziert in ihr Adoptivkind all das Glück hinein, das ihr im Leben fehlt. War das damals nach dem Terroranschlag bei Ihnen auch so?
Dina fühlt sich einsam und verlassen. Als Tochter wurde sie von ihrer Mutter geliebt, ihr Mann und ihre Tochter führen ihr eigenes Leben. Das habe ich in dieser Form selbst nie erlebt. Dina – das bin nicht ich. Aber die Sehnsucht, wieder gebraucht und geliebt zu werden, ist mir sicherlich nicht unbekannt. Nach dem Anschlag hatte ich das starke innere Bedürfnis, mich mit Haut und Haaren um dieses ganz und gar bedürftige Kind zu kümmern.

Das Thema Familie bildet stets den Hintergrund für Ihre Geschichten. In »Für den Rest des Lebens« sind Dina und ihr Bruder Avner die Leidtragenden der Erziehung ihrer Mutter. Diese wiederum hatte ebenfalls eine schwere Kindheit, die sie auf ihre Kinder überträgt. Kann man seiner Kindheit überhaupt entfliehen?
Sie begleitet uns zwangsläufig das gesamte Leben. Selbst Dinas sterbende Mutter fühlt, dass ihre Kindheit erst mit ihrem Tod vorbei sein wird. Natürlich gibt es auch Menschen, die schlimmste Erlebnisse in ihrer Kindheit erfolgreich verarbeiten. Jene, die Zeit ihres Lebens von ihren Kindheitserfahrungen gebremst werden, stellen meiner Wahrnehmung nach jedoch die weitaus größere Gruppe dar.

Hat Heimito von Doderer also recht, dass jeder seine Kindheit über den Kopf gestülpt bekommt wie einen Eimer? Der Inhalt rinnt ein ganzes Leben lang an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.
Ich fürchte ja. Und je zarter die Seele, desto stärker ist der Abdruck, den die Eltern einem – absichtlich oder unabsichtlich – aufdrücken. Ich glaube, dass die Erfahrungen der Eltern an die nächste Generation vererbt werden. Gleichwohl sollten wir versuchen, uns davon freizumachen, so wie es meine Romanfiguren tun.

Ist die Familie Ihrer Ansicht nach mehr Quelle des Glücks oder des Unglücks?
Familie kann eine Quelle von Kraft und Liebe sein, leider aber oft genug auch vom genauen Gegenteil. In Israel resultiert tragischerweise Letzteres aus Erstgenanntem. Denn wir sind uns der Vergänglichkeit des Lebens aufgrund der Schoa und der permanenten Bedrohung viel mehr bewusst, als es etwa in Nordeuropa der Fall ist. Deswegen verbringen wir möglichst viel Zeit miteinander – viel mehr, als uns guttut.

Sie haben als Autorin politische Themen bisher immer ausgeklammert. Nun aber schreiben Sie auch über Israel und seine politischen Konflikte. Warum?
Das ist richtig. Gerade im Zusammenhang mit der Figur des Menschenrechtsanwalts Avner werde ich politisch. Ich habe mir erlaubt, das Fenster zur israelischen Gesellschaft zu öffnen. Das hat die Geschichte einfach von mir verlangt. Ich habe versucht, die Auswirkungen der politischen Situation in Israel auf das Individuum zu erfassen.

Ihr Roman ist auch eine Abrechnung mit der Kibbuzbewegung. Welche unbeabsichtigten Folgen hatte diese Lebensform?
Die Pioniere und Kibbuzgründer wollten gemeinschaftlich eine ganz neue Welt erschaffen. Persönliche Gefühle waren da fehl am Platz. Die Kinder sind in einer Art Kindergarten aufgewachsen, der Kontakt zu den eigenen Eltern war sehr spärlich. Meiner Ansicht nach wurden dadurch deren emotionale Bedürfnisse vollkommen ignoriert. Erst in den letzten Jahren ihres Lebens haben die Pioniere realisiert, dass der Aufbau Israels die Vernachlässigung der eigenen Kinder zur Folge hatte.

Sie selbst wurden im Kibbuz Kinneret geboren, den Ihre Großeltern gegründet hatten. Sind diese Erinnerungen an die eigene Kindheit in Ihr Buch mit eingeflossen?
Ohne diese Erfahrungen hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Meine Mutter hat immer mit der strikten Ideologie ihrer Eltern gehadert und darunter gelitten. Diese hatten als Pioniere zwar einen starken, erfolgreichen jüdischen Staat aufgebaut. Der Preis aber war hoch – und den musste sowohl die Generation meiner Großeltern als auch die Generation meiner Eltern teuer bezahlen.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.


Zeruya Shalev wurde 1959 als Tochter einer Kunstdozentin und eines Literaturkritikers im Kibbuz Kinneret geboren. Im Anschluss an ihr Studium arbeitete sie als Lektorin und veröffentlichte Lyrik sowie Kurzgeschichten. Nachdem sie in Israel bereits zwei wichtige Literaturpreise gewonnen hatte, gelang ihr 2000 mit dem erotischen Roman »Liebesleben« ein internationaler Bestseller. Mit ihren bislang fünf veröffentlichten Büchern ist sie die erfolgreichste Schriftstellerin Israels. Sie lebt, zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern, in Jerusalem.

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