Berlinale

»Ich werde mich entschuldigen«

Die neue Berlinale-Chefin verspricht ein Filmfestival mit Haltung. Tricia Tuttle im Interview über den Skandal des vergangenen Jahres und Debattenkultur

von Sophie Albers Ben Chamo  11.02.2025 12:47 Uhr

Will ein Filmfestival für alle: Tricia Tuttle (54) Foto: Gregor Matthias Zielke

Die neue Berlinale-Chefin verspricht ein Filmfestival mit Haltung. Tricia Tuttle im Interview über den Skandal des vergangenen Jahres und Debattenkultur

von Sophie Albers Ben Chamo  11.02.2025 12:47 Uhr

Frau Tuttle, es ist Ihre erste Berlinale als deren Leiterin – im 75. Jubiläumsjahr, nach dem politischen Skandal des vergangenen Jahres, mitten im Wahlkampf, mit finanziellen Einschnitten, und Sie müssen 1000 Filme sehen. Wie geht es Ihnen?
Es war ein sehr anstrengendes und wildes Jahr. Es war eine Herausforderung, aber es ist auch eine Ehre und eine Freude. Ich liebe Filmfestivals. Und das hier ist eines der besten der Welt. Aber ich wusste, dass es nicht einfach wird, wir leben in schwierigen Zeiten. Der 7. Oktober 2023 war ein Paradigmenwechsel für uns alle. Und mit den Gesprächen auf der vergangenen Berlinale und der Debatte danach wurde mir etwas vererbt, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Sie wurden sechs Wochen nach dem 7. Oktober berufen. Sie sahen als Beobachterin, wie sich der Skandal - die antiisraelischen Ausfälle auf der Bühne und daneben - entfaltete. Haben Sie für Ihre Arbeit etwas daraus gelernt?
Eine Million Dinge! Ich habe im vergangenen Jahr bestimmt 50 Prozent meiner Zeit damit verbracht, mit Menschen darüber zu reden, was passiert ist. Die größte Lektion ist, dass diese Themen überall eine komplexe Debatte auslösen, aber in Deutschland noch einmal mehr. Und dann auf diesem Festival, das dafür berühmt ist, politisch zu sein. Doch wenn man bei der Gala eine Person nach der anderen über Mitgefühl für die Menschen in Gaza reden hört, aber niemand erwähnt den Schmerz auf der anderen Seite, niemand erwähnt den Schauspieler David Cunio, der vor zwölf Jahren auf der Berlinale war …

Und der noch immer Geisel in Gaza ist.
… dann denke ich, dass das Festival versäumt hat, dem Raum zu geben. Das hat sehr viele Menschen verletzt. Dabei wollen wir ein Festival für alle sein. Das war es im vergangenen Jahr nicht.

Ist der Film »Michtav LeDavid«, über das Schicksal Cunios, ein Eingeständnis?
Zum Teil. Aber vor allem ist es ein wichtiger Film, und das wäre er auch ohne die Debatte. Es ist solch ein persönlicher, intimer Brief von Regisseur Tom Shoval an David Cunio, eine Erinnerung an ihren Film »Youth«, der 2013 bei der Berlinale Premiere hatte. Unabhängig vom Film werde ich mich dafür entschuldigen, dass wir letztes Jahr nicht die Stimme erhoben haben.

Sie wollen sich auf dem Festival für den Skandal entschuldigen?
Es geht nicht um die Debatte, es ist eine persönliche Entschuldigung bei David Cunio und seiner Familie.

Lesen Sie auch

Haben Sie Sorge, dass es auch dieses Jahr antiisraelische oder sogar antijüdische Aktionen auf dem Festival geben könnte?
Wissen Sie, viele Diskussionen verlieren zunehmend an Komplexität, und deshalb werden die Leute mehr und mehr polarisiert. Das heißt, dass es für die Kultur immer schwieriger wird. Ich sorge mich auch um die jungen Menschen in der Welt, die sich radikalisieren, weil sie meinen, nicht sprechen zu dürfen. Wir müssen diese Leute zusammenbringen, und wir müssen uns komplexen Debatten stellen. Wir dürfen keine Angst davor haben. Natürlich müssen wir sehr wachsam sein und gegen Antisemitismus aufstehen, aber wir dürfen das Gespräch nicht abbrechen, das Gefühle und Meinungen der Menschen ändern könnte. Wir müssen die Diskussion in der Mitte aushalten, damit es die Leute nicht an die Ränder zieht. Denn das schadet nicht nur der Kultur, sondern der ganzen Gesellschaft. Wir erleben gerade eine besonders schwierige, aufgeheizte Zeit. Wir werden sie überstehen – wenn wir miteinander reden.

Haben Sie einen israelischen Lieblingsfilm?
Ich mag die Filme von Talya Lavie. Ich hoffe, da kommt bald wieder was.

Mit der neuen Berlinale-Chefin und ehemaligen Leiterin des London Film
Festival sprach Sophie Albers Ben Chamo.

Leserbriefe

»Es gibt uns, nichtjüdische Deutsche, die trauern und mitfühlen«

Nach der Sonderausgabe zum Schicksal der Familie Bibas haben uns zahlreiche Zuschriften von Lesern erreicht. Eine Auswahl

 17.03.2025

Berlin

Nahostkonflikt erreicht »Schneewittchen«

»Schneewittchen« ist noch nicht einmal gestartet, da überschatten bereits Kontroversen die Neuverfilmung des Disney-Klassikers. Im Mittelpunkt stehen vor allem die Hauptdarstellerinnen

von Sabrina Szameitat  17.03.2025

Berlin

Deutscher Filmpreis: Zehn Nominierungen für »September 5«

Der Thriller über das Massaker von München im Jahr 1972 geht als Favorit ins Rennen um den Deutschen Filmpreis. Konkurrenz bekommt er unter anderem von einem Film, der für die Oscars nominiert war

 17.03.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. März bis zum 26. März

 17.03.2025

Rezension

Alles, nur nicht konventionell

Elisabeth Wagner rückt vier Frauen aus der Familie des Verlegers Rudolf Mosse ins Licht der Aufmerksamkeit

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.03.2025

Kulturkolumne

They tried to kill us, we survived, let’s eat!

Der Satz ist wie kein anderer mit jüdischer Essenstradition verbunden ist. In unserer Generation bekommt er eine neue Dimension

von Laura Cazés  16.03.2025

Tanz

Ballett nach Kanye West

Der Israeli Emanuel Gat inszeniert sein Stück »Freedom Sonata« im Haus der Berliner Festspiele

von Stephen Tree  16.03.2025

Düsseldorf

Fantastische Traumwelten in intensiven Farben

Marc Chagall zählt zu den wichtigsten und beliebtesten Malern des 20. Jahrhunderts. Nun widmet die Kunstsammlung NRW ihm eine große Ausstellung

von Irene Dänzer-Vanotti  16.03.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  14.03.2025 Aktualisiert