Porträt der Woche

»Ich habe mich nie versteckt«

Carolin Heymann studiert Film und Theater und setzt sich für Erinnerungskultur ein

von Eugen El  29.08.2021 09:48 Uhr

»In meinem Stammbaum habe ich ein Loch«: Carolin Heymann lebt in Frankfurt. Foto: Rafael Herlich

Carolin Heymann studiert Film und Theater und setzt sich für Erinnerungskultur ein

von Eugen El  29.08.2021 09:48 Uhr

Es ist immer die Frage: Ist man Jude in Deutschland, jüdischer Deutscher oder deutscher Jude? Ich würde sagen, ich bin Jüdin in Deutschland. Ich komme aus einem traditionell geprägten jüdischen Elternhaus. Geboren bin ich 1992 in Wiesbaden. Dort bin ich auch aufgewachsen, mit einer Ausnahme: Als Kind war ich zehn Monate in Haifa im Kindergarten. Ich habe die deutsche und die israelische Staatsbürgerschaft.

Meine Mutter kommt aus Israel und stammt von ukrainischen Juden ab. Ich bin immer ganz stolz auf meine Mutter: Sie war Haupt- und Realschullehrerin in Wiesbaden und stand immer offen dazu, dass sie aus Israel kommt und jüdisch ist. Sie hat alle Herzen der Kinder gewonnen. So bin ich auch groß geworden – vor allem mit dem Bild, dass alle Menschen gleich sind, und dem Ideal »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu«. Mein Vater ist gebürtig aus Peru, stammt aber von deutschen Juden ab. Es ist ein guter Mix.

In Wiesbaden bin ich überwiegend mit nichtjüdischen Freunden aufgewachsen, weil die Gemeinde dort relativ klein ist. Ich liebe die Wiesbadener Gemeinde, weil ich dort groß geworden bin. Ich war immer ein aktives Gemeindemitglied. Meine Freunde waren aber vor allem in der Schule. Dort war ich mitunter die einzige Jüdin in der Klasse, bis auf ein halbes Jahr, wo es eine weitere gab.

Wenn in der Schule ein Judenwitz fiel, habe ich immer klar Stellung bezogen.

Nach meinem Abitur 2011 bin ich für zehn Monate nach Israel gegangen. Ein Grund dafür war, dass mir der Austausch mit anderen jungen Juden in meinem Alter gefehlt hatte. Ich habe ein Volontariat in einem Jugenddorf in Gan Yavne bei Asch-
dod absolviert. Dort war ich unter anderem Betreuerin für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Es war anders, als immer nur zur Familie zu fahren. Diese Zeit war nicht ganz ohne für jemanden, der gerade Abitur gemacht hat. Raketen gab es auch immer wieder – eine Herausforderung, wenn man gleichzeitig auf Kinder aufpassen musste.

UNI Anfangs stand noch im Raum, in Israel zu bleiben. Aber ich entschied mich, für das Studium zurück nach Deutschland zu kommen. Das war 2012. Ich begann direkt mein Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt. In diesem Studienfach bin ich mittlerweile im Master eingeschrieben. Als ich wieder in Deutschland war und an die Uni kam, ging es wie in der Schulzeit weiter: Ich hatte erst einmal vor allem nichtjüdische Freunde. Um 2014 habe ich beschlossen, dass ich da etwas ändern muss. Ich nahm mehr Kontakt zur Jüdischen Gemeinde Frankfurt und den Menschen dort auf. So lernte ich auch meinen Freund Aaron kennen.

Mein Bachelor-Studium schloss ich Anfang 2018 ab. Zuvor hatte ich mich für ein Masterstudium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften beworben, weil ich mit einem Auslandsaufenthalt gepokert hatte. Und es ist aufgegangen. Noch bevor ich in die USA ging, habe ich mit Aaron und anderen den Verband Jüdischer Studierender Hessen gegründet. Ich war damals daran interessiert, Strukturen mitzuentwickeln – auch auf kultureller und akademischer Ebene. Ich habe dann direkt eine Vorlesung mit David Hirsh, einem Akademiker aus Großbritannien, organisiert. Er kommt aus der Labour-Partei und arbeitet zum Antisemitismus innerhalb der Linken, vor allem in Bezug auf Großbritannien. Er hat einige spannende und intelligente Ansätze. Für mich war es toll, da ich dadurch die Möglichkeit hatte, ihn nach Frankfurt zu holen.

Im August 2018 bin ich, durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst finanziert, für neun Monate an die Yale University gegangen. Dort bin ich am German Department gewesen. Ich habe aber dann überwiegend Modern Jewish History bei Professor David Sorkin gemacht. Das ist bis heute ein Interessengebiet, das mein Denken stark mitprägt. Es ging unter anderem um Fragen der jüdischen Emanzipation und Aufklärung. Was wirklich toll ist an den amerikanischen Universitäten, ist das »Directed Reading«. Einmal in der Woche bespricht man ein Buch zu zweit mit dem Professor. Es war ein sehr hohes Lesepensum im Vergleich zur deutschen Uni! Bei Professor Sorkin musste man ein Buch pro Woche lesen und vorbereiten. Das habe ich fast nie geschafft. Yale war ein tolles Erlebnis.

»NANNY« Ich kam zurück und war noch ein halbes Jahr die persönliche wissenschaftliche Hilfskraft meines Theater-Professors. Dann kam für mich die Entscheidung, dass ich mich auf meinen Master-Abschluss vorbereiten muss. Und dann kam Corona. Seitdem dauert es etwas länger, weil sämtliche Strukturen, wie etwa Bibliotheken, weggefallen sind. Aber ich bin jetzt ziemlich gut drin und habe ein tolles Thema: Ich schreibe über die Sitcom Die Nanny aus den 90er-Jahren. Ich schaue mir dabei vor allem ihren jüdischen Humor an – im Hinblick auf die Aneignung der Zuschreibung des Primitivismus.

Es geht zum Beispiel darum, dass sie in der Serie immer viel essen, laut brüllen, immer sehr »over the top« sind. Heute erlebt Die Nanny wieder eine Renaissance, da sie auf der Streaming-Plattform »HBO Max« läuft. Es gibt beispielsweise Tausende Instagram-Accounts, die sich nur mit der Mode dieser Sitcom beschäftigen. Interessanterweise kam Die Nanny in den 90er-Jahren in der amerikanisch-jüdischen Community gar nicht gut an. Ich habe den Gedanken nicht ganz verabschiedet, in den USA zu promovieren. Promotion stand immer im Raum. Ich könnte mir aber auch vorstellen, mich erst einmal ins Arbeitsleben zu stürzen.

Ich habe sehr früh angefangen, mich mit meiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen und zu identifizieren.

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo alle meine Großeltern Überlebende der Schoa sind. Ich bin Dritte Generation. Mein Großvater väterlicherseits wurde in Berlin geboren. Er hat an der Humboldt-Universität Jura studiert und das erste Staatsexamen abgelegt. Das zweite durfte er schon nicht mehr machen. Er war aber gleichzeitig auch sehr musikalisch und war im Jüdischen Kulturbund Berlin. Dort hat er unter anderem dirigiert. Mein Großvater hat dann von einem Nichtjuden erfahren, der vor allem jüdische Musiker suchte, um das Sinfonieorchester in der peruanischen Hauptstadt Lima aufzubauen. Dann hat mein Opa, der ein absolutes Gehör hatte, sich in letzter Minute Tuba und Posaune selbst beigebracht. Er floh eine Nacht vor der Pogromnacht aus Deutschland nach Peru.

Meine Großmutter väterlicherseits hatte bereits eine Erstfamilie – Ehemann und Kind. Sie hat beide verloren. Sie war im Ghetto, KZ und Arbeitslager. Danach ist sie zu ihren Geschwistern nach Lima gegangen. Dort kam mein Vater zur Welt. Mein Opa kannte Willy Brandt und dessen Entourage. Sie kamen nach Lima und erfuhren, dass mein Großvater zu dem Zeitpunkt arbeitslos war. Sie haben es ihm ermöglicht, wieder als Jurist in Deutschland zu arbeiten. Allerdings wollte meine Oma aufgrund dessen, was passiert ist, nicht nach Berlin gehen. Also sind sie nach Wiesbaden gezogen.

Mütterlicherseits stammt die Familie aus der Ukraine. Mein Opa hat seine ganze Familie verloren. Er konnte sich zusammen mit zwei Geschwistern retten und fliehen. Aufseiten meiner Oma mütterlicherseits war es ähnlich. Sie haben sich dann im Ural, wohin sie geflohen waren, kennengelernt. In Tscheljabinsk kam noch mein Onkel zur Welt. Sie sind zurück nach Polen gegangen und anschließend nach Israel. Dort wurde meine Mutter 1953 geboren. Sie ist dort aufgewachsen und hat ebenfalls in Israel meinen Vater kennengelernt.

BUCH Die Geschichte meiner Oma steht in einem Buch. Ich habe sehr früh angefangen, mich damit auseinanderzusetzen und zu identifizieren. Auch vor meinen Schulklassenkameraden, was nicht immer für einfache Situationen gesorgt hat, wenn etwa mal ein Judenwitz gefallen ist. Aber ich habe schon immer klar Stellung bezogen. Es war mir immer wichtig. Ich habe nie mein Judentum, meine Herkunft oder meine Familiengeschichte versteckt.

Und ich habe versucht, klarzumachen: Mir ist wichtig, dass es nicht vergessen wird. Mir ist wichtig, dass die Zweite und vor allem die Dritte Generation heute eine Stimme bekommt. Wir haben es zwar nicht erlebt, aber wir kennen Geschichten, wir haben hier Auseinandersetzungen. Wenn ich immer wieder Sprüche wie »Ich will es nicht mehr hören« oder »Es reicht« mitbekomme, dann sage ich: Hört mal zu, in meinem Stammbaum ist ein Loch! Wenn ich das sage, dann funktioniert es. Ich mache niemandem einen Vorwurf, heute schon gar nicht. Ich sage nicht, ihr seid immer noch Täter, aber ich sage: Vergesst es nicht!

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