Netflix

Helden im Dschungel

Libanon-Veteran Aviv Danino (Tomer Kapon) will in Kolumbien eine Totgeglaubte retten. Foto: Netflix

Diese Szene, in der der Arzt Noga mitteilt, dass alle Mühe vergeblich war ... Man hört kein Wort, die Musik ist laut. Man sieht den Arzt im grünen OP-Anzug und Noga, die israelische Ermittlerin, die gesagt bekommt, dass ihr kleiner Sohn und ihr Ehemann den Terroranschlag nicht überlebt haben. Der Arzt ist sehr aufrecht, um Haltung bemüht.

Noga ist wie ein angeschlagener Baum, den die Axthiebe des explodierenden Autos, in dem ihr Sohn und ihr Ehemann sitzen, schon ins Wanken gebracht haben. Und dann fällt der Baum. Dann fällt Noga. Nicht auf die Erde. Nicht in die Arme des Arztes. Nein. Noga fällt in sich zusammen.

Szene Ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet diese winzige Szene aus dem großen Heldenepos When Heroes Fly dermaßen im Gedächtnis bleibt. Denn es gibt nichts in dieser Serie, was nicht bemerkenswert ist. »Mein Vater wollte mich Ben nennen. Meine Mutter war dagegen. Sie dachte, dass ein kurzer Name auch ein kurzes Leben bedeutet.«

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Oder diese halbe Serienminute, in der ein junger Mann sein Bett abzieht und man für den Bruchteil einer Sekunde sieht, dass sein Laken nass ist. Dieser Mann heißt Aviv, er ist 34 Jahre alt, wunderschön, klug, mutig, und sein letzter Einsatz als Soldat im Libanon hat ihn zu einem Menschen gemacht, der mehr existiert, als dass er lebt. Ich möchte ihm so gerne sagen, dass alles wieder gut wird. Aber wird es das?

Ich bin diejenige, die behauptet hatte, dass es nach Fauda, Hostages und Shtisel keine weitere israelische Fernsehserie geben kann, die mein Herz erobert. When Heroes Fly erobert nicht nur mein Herz, nein, die Serie nimmt mich gefangen und lässt mich nicht mehr los. Ich weine. Leide. Lache. Kämpfe. Sterbe. Lebe weiter. Und bete.

Das Erfolgsgeheimnis israelischer Serien: Niemand ist immer nur stark.

Also wenn die israelischen Filmfirmen etwas können, dann sind es Serien. Wahnsinn. Das muss einer Fernsehproduktion erst einmal gelingen, dass ich, seit 25 Jahren in ebendiesem Business tätig, vergesse, dass es »nur« eine Fernsehserie ist, und zu ungeduldig, zu gespannt, zu sehr mittendrin den Vorspann überspringe, um schneller den nächsten Teil und den darauffolgenden schauen zu können.

Bei When Heroes Fly sehe ich nur den allerersten Vorspann. Und dann keinen einzigen mehr. Und verliebe mich stattdessen in Aviv, Benda, Dubi, Dotan »Himmler« Friedman und in Yaeli. Yaeli, du Schöne, mit deinen traurigen Augen, ich wünschte, ich würde dich tatsächlich kennen. Und Noga, die im Krankenhausflur umfällt und dennoch keine Verliererin ist.

Ich glaube, dass das eines der vielen Erfolgsgeheimnisse israelischer Serien ist: Niemand ist immer nur stark. Alle sind auch schwach und verletzlich. Laufen weg. Kommen wieder. Voller Zweifel. Weswegen es mir so unsagbar leichtfällt, an alle Heroes in When Heroes Fly mein Herz zu verlieren. Ich vergebe Sympathien. Und entwickle Abneigungen. Ich kann mich irren und meine Meinung ändern. Die Ängste der Akteure, die ganz andere sind als die meinen, sind mir vertraut. Ihre Verletzungen, die viel mehr schmerzen als die meinen, stecken auch in meinem Körper. Ihre Gelüste, ihre Süchte verführen auch mich.

Die Handlung entführt in den Libanon, nach Tel Aviv, Bogota und in den Dschungel Kolumbiens.

Und wenn alles ganz dunkel und ausweglos erscheint, kommt plötzlich Mut daher. Mut ist das, was in Israel am meisten zählt. Du kannst schwach sein und zögerlich und kaputt und krank, aber verliere nie deinen Mut!

Hoffnung Aviv fragt in einer Sitzung seine Therapeutin: »Bitte sagen Sie mir nur eines, werde ich wieder ein Leben haben? Werde ich mich jemals wieder länger als fünf Minuten in einem Raum voller Menschen aufhalten können?« Die Therapeutin antwortet: »Sie haben auch gute Tage.« Genauso ist Israel, das Land, in dem ich so viel lebe. Es täuscht nichts vor, aber es gibt auch niemals auf, vor allem nicht die Hoffnung.

Ich sehe When Heroes Fly an zwei aufeinanderfolgenden Abenden und Nächten. Zehn Teile à 60 Minuten. Ich war im Libanonkrieg, in Tel Aviv, in Bogota und im kolumbianischen Dschungel. Ich bin nie allein. Ich fühle mich nie alleingelassen. Das muss einer Fernsehproduktion erst einmal gelingen.

Säße ich in einer Festivaljury, ich würde When Heroes Fly alle Preise dieser Welt verleihen. Für ein wunderbar adaptiertes Drehbuch (die Serie basiert auf Amir Gutfreunds gleichnamiger Novelle Bishvila Giborim Afim), für eine Kameraführung, die so dicht ist, dass mir der Atem stockt, für den radikalen Schnitt, der nicht zulässt, dass ich mit meinen Gedanken abschweife, für die Musik, die ich mir umgehend auf Spotify herunterlade. Und für die großartigsten Schauspielerinnen und Schauspieler der Welt, die nach zwei Minuten When Heroes Fly gar keine mehr sind. Aviv, Benda und all die anderen sind so echt, so authentisch, so greifbar nahe, obwohl uns ein Fernsehbildschirm voneinander trennt.

Säße ich in einer Festivaljury, ich würde der Serie alle Preise dieser Welt verleihen.

Ein einziges Mal weine ich nicht leise. Ich weine laut. Beinahe hysterisch. Commander Azoulay sagt: »Aviv, bring’ die Jungs nach Hause!« So einen wie Azoulay braucht man im Leben. Und das Fernsehen braucht israelische Netflix-Serien wie diese. Was mache ich bloß mit dem Rest des Jahres?

»When Heroes Fly«, Israel 2018. Regie: Omri Givon. Mit Tomer Kapon, Ninet Tayeb, Michael Aloni u.a. Auf Netflix.

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