Wuligers Woche

Heilige Einfalt

Jüdisches Leben in Deutschland ist vielfältig. Foto: Getty Images / istock

Ich will mich nicht in den religiösen Richtungsstreit im Judentum einmischen. Ich bin säkular; mir ist egal, in welche Art Gottesdienst ich nicht gehe. Allerdings muss ich eine gewisse Schwäche für die Orthodoxie eingestehen. Denn die Frommen halten unsere Tradition am Leben. Nicht nur in Glaubensangelegenheiten, auch in der Alltagskultur.

Chuzpe Zum Beispiel den schönen Begriff »Chuzpe«, laut Wikipedia »eine Mischung aus zielgerichteter, intelligenter Unverschämtheit, charmanter Penetranz und unwiderstehlicher Dreistigkeit«. Das klassische Beispiel für Chuzpe ist die Geschichte von dem Mann, der seine Eltern umbringt und dann vor Gericht mildernde Umstände verlangt, weil er ja Vollwaise ist. Der Witz ist leider alt und durch allzu häufiges Zitieren etwas abgenutzt. Ein Glück, dass wir Rabbi Michel Gugenheim haben, der jetzt ein neues, originelles Exempel für Chuzpe geliefert hat.

Gugenheim ist orthodoxer Oberrabbiner von Paris. Dort wurde vorige Woche in Anwesenheit von Präsident Macron ein neues jüdisches Gemeindezentrum feierlich eröffnet, mit 5000 Quadratmetern das größte Europas. Nicht nur der Bau mit Synagoge, Tagungsräumen, Konzerthalle und Kino ist hochmodern.

Diversität Auch das zugrunde liegende Konzept ist auf der Höhe des Zeitgeists. »Alle jüdischen Stimmen in ihrer Vielfalt werden hier gehört werden«, versprach Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia in seiner Rede zur Eröffnung. Vielfalt, oder progressiv-intellektuell ausgedrückt »Diversität«, ist schließlich ein Kernbegriff unserer multikulturellen Gesellschaft.

Dem kann und will sich auch die Orthodoxie nicht entziehen. Allerdings hat die, folgt man Michel Gugenheim, ihre ganz eigene Definition von Vielfalt. Gefragt, ob auch Reformjuden und die konservative Glaubensrichtung im neuen Zentrum vertreten sein würden, antwortete der Rabbi mit einem klaren »Nein!«. Nur Orthodoxe hätten dort Platz.

Glaube Was denn dann mit der versprochenen Diversität sei, hakte ein Journalist nach. Ja, selbstverständlich werde die gepflegt, so Gugenheim. Innerhalb der Orthodoxie gebe es ja schließlich große Unterschiede. Im Übrigen habe er überhaupt nichts gegen liberale Juden: »Sie können eine positive Rolle spielen, wenn sie säkulare Juden wieder zum Glauben zurückführen und die dann zur Orthodoxie finden.«

Das erinnert ein wenig an Henry Ford, der bei der Vorstellung seines ersten Autos erklärte: »Den Wagen gibt es in jeder gewünschten Farbe. Vorausgesetzt, Sie wählen Schwarz.« Und es könnte Schule machen.

Die ersten Fans haben sich bereits zu Wort gemeldet. »Auch mehrere Vertreter der muslimischen Gemeinschaft nahmen an der Zeremonie teil«, berichtet die britische Zeitung »Jewish Chronicle«: »Sie erklärten, nach dem jüdischen Vorbild demnächst ein islamisches Zentrum errichten zu wollen.« Baruch HaSchem. Allahu Akbar.

Glosse

Der Rest der Welt

Herbstkaffee – und auf einmal ist alles so »ejn baʼaja«

von Nicole Dreyfus  02.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Zahl der Woche

8 jüdische Gemeinden

Fun Facts und Wissenswertes

 02.11.2025

Aufgegabelt

Wareniki mit Beeren

Rezepte und Leckeres

 02.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  02.11.2025

Debüt

Katharsis und Triumph

Agnieszka Lessmann erzählt in ihrem Roman über transgenerationales Trauma und das Gefühl des Ausgegrenztseins, aber auch von einer jungen Frau, die sich selbst wiederfindet

von Sara Klatt  02.11.2025

Hören!

»Song of the Birds«

Der Mandolinist Avi Avital nimmt sein Publikum mit auf eine emotionale Klangreise entlang des Mittelmeers

von Nicole Dreyfus  02.11.2025

Künstliche Intelligenz

Wenn böse Roboter die Menschheit ausrotten

Die amerikanischen Forscher Eliezer Yudkowsky und Nate Soares entwerfen in ihrem neuen Bestseller ein Schreckensszenario. Ist KI tatsächlich so bedrohlich?

von Eva C. Schweitzer  02.11.2025

Musik

Yuval Weinberg wird Chefdirigent des Rundfunkchors Berlin

Ab der Spielzeit 2028/29 übernimmt der Israeli auch die Position des Künstlerischen Leiters

 31.10.2025