Geschichte

Grundrisse des Grauens

Peter Sieber fertigte mehr als 50 Lagepläne, Bauzeichnungen und Isometrien an. Foto: emons:

Geschichte

Grundrisse des Grauens

Der Bauzeichner Peter Siebers hat das Konzentrationslager Auschwitz kartografiert

von Welf Grombacher  23.01.2017 18:25 Uhr

Im Jahr 2001 besuchte Peter Siebers das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Als er im Außenlager Birkenau auf die Ruinen schaute, wurde ihm bewusst, dass davon nur noch ein kleiner Teil von 20 Prozent übrig geblieben und das ganze Ausmaß dieser Menschheitskatastrophe nicht mehr zusammenhängend zu erkennen war.

In diesem Augenblick kam dem Bauzeichner aus Köln die Idee, das Vernichtungslager vollständig mit seinen Gebäuden, Wachtürmen, Toren, Rampen, Gleisanlagen, Gas- kammern und Krematorien aufzumessen und zeichnerisch zu rekonstruieren. Ganze 15 Jahre arbeitete er an diesem einzigartigen Vorhaben, fertigte mehr als 50 Lagepläne, Bauzeichnungen und Isometrien an. Gegen das Vergessen, wie er betont: »Als Deutsche sind wir es den Opfern schuldig, uns der Vergangenheit bewusst zu sein, die Erinnerung wachzuhalten, auch im Hinblick auf unsere Zukunft.«

Grund Seit 30 Jahren beschäftigt sich Peter Siebers mit Auschwitz. Als Kind erlebte er in katholischen Kinderheimen selbst sadistische Demütigungen, Essens- und Schlafentzug, das Einsperren in Dunkelkammern. »Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der die Nazis nicht verschwunden waren, nur weil der Krieg vorbei war«, erzählt Siebers. »Mein Ziehvater, Hans R. Ihle (1919–2003), Naturwissenschaftler und Biochemiker, der unter anderem in Berkeley studiert hatte und an dessen großem Wissen ich und mein Sohn viele Jahre partizipieren konnten, war ein sogenannter Halbjude. Ebenso mein Ausbilder, der Architekt Jörg Anders. Die Menschengruppen, die in der Schoa verfolgt worden sind, habe ich alle kennengelernt, das war auch ein Grund, mich zu vergewissern, was da eigentlich passiert ist.«

Unterm Arm die ersten Rollen mit Plänen, besuchte Peter Siebers wenig später das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln und stieß dort gleich auf offene Ohren. Der Band Todesfabrik Auschwitz, der als Begleitbuch einer Wanderausstellung entstanden ist, die bereits in Köln, Radogoszcz und Auschwitz zu sehen war und in diesem Jahr weiter nach Lublin und Warschau reist, versammelt diese Grund- und Aufrisse des Grauens. Sie werden von Fotos der heutigen Gedenkstätte ergänzt, die Siebers in Auschwitz gemacht hat.

Hölle Den auf Deutsch, Englisch und Polnisch abgedruckten Text dazu lieferte der israelische Historiker Gideon Greif, Chefhistoriker des Shem-Olam-Instituts in Israel und der »Foundation for Holocaust Education Projects« in Miami.

Zeichnungen von Holocaust-Opfern und Überlebenden komplettieren dieses in Kooperation mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau entstandene außergewöhnliche Buchprojekt, das in schonungsloser Offenheit das größte Konzentrations- und Vernichtungslager dokumentiert, dessen vornehmliches Ziel es war, einen möglichst reibungslosen Ablauf der Todesindustrie zu gewährleisten. Allein in den Öfen der vier Krematorien von Birkenau wurden 4416 Leichen am Tag verbrannt. In Hochphasen, etwa nach der Deportation der Juden aus Ungarn ab Mai 1944, waren es sogar bis zu 10.000 pro Tag.

Als »Hölle auf Erden« wurde Auschwitz deswegen von Überlebenden oft bezeichnet. Aber eine Hölle, die nicht vom Teufel, sondern von Menschen geplant und ausgeführt wurde. Hin- und hergerissen ist man während der Lektüre dieses Buches, das die 150 Gebäude, 300 Ruinen und 13 Kilometer Zaun des Stammlagers Auschwitz und der beiden Außenlager Birkenau und Monowitz mit einer Detailversessenheit kartografiert, die der bürokratischen Präzision in nichts nachzustehen scheint, mit der die Nazis diese Todesfabrik Ende der 30er-/Anfang der 40er-Jahre planten.

Exaktheit Das Projekt von Peter Siebers mag auf den ersten Blick grausam anmuten, macht aber durchaus Sinn. Während das Stammlager als Gedenkstätte erhalten blieb, existiert in Birkenau, das im Januar 1945 beim Anrücken der Roten Armee von den Nazis weitgehend gesprengt wurde, nicht mehr viel, und das Außenlager Monowitz wurde nach dem Krieg sogar komplett dem Erdboden gleichgemacht. Die millimetergenauen Bauzeichnungen von Siebers lassen alle drei Lager auf dem Papier wiedererstehen und dokumentieren in ihrer verstörenden Exaktheit das ganze Ausmaß des Schreckens.

Sie zeigen Auschwitz nicht als Mythos, zu dem es mit zunehmendem Abstand immer mehr zu werden droht, sondern als realen Ort. Von Menschen gemacht. Was dort geschah, kann sich jederzeit wiederholen – wenn vielleicht auch nicht in dieser diabolischen Konsequenz wie seinerzeit unter den Nationalsozialisten. Mehr als eine Million Juden wurden in Auschwitz ermordet.

Dazu 75.000 Polen, 20.000 Sinti und Roma, einige Tausend sowjetische Kriegsgefangene und andere Opfer. Mehr als 40 Nebenlager existierten. Viele davon sind heute nahezu vergessen. Publikationen wie die von Peter Siebers und Gideon Greif tragen dazu bei, dass auch Nachgeborene sich das Unvorstellbare vorstellen können.

Gideon Greif, Peter Siebers: »Todesfabrik Auschwitz. Topographie und Alltag in einem Konzentrations- und Vernichtungslager«. Emons, Köln 2016, 338 S., 49,95 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025