Sachbuch

Gerüchte über die Brit Mila

Eine junge Mutter in Jerusalem nimmt ihr Baby nach der Brit Mila in den Arm. Foto: Flash 90

Der vom Deutschen Bundestag vor etwas mehr als einem Jahr neu beschlossene Paragraf 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der die medizinisch nicht notwendige Beschneidung kleiner Jungen unter sechs Monaten straffrei dem Elternrecht unterstellt, hat den bedrohten Rechtsfrieden in Deutschland wiederhergestellt. Seither ist es orthodoxen jüdischen Familien, die ihre Kinder in Deutschland auf die Welt bringen wollen, möglich, ihren Glauben angstfrei zu leben, ohne Deutschland für immer verlassen oder zum Zweck des Eingriffs ins Ausland reisen zu müssen.

Gegen diese demokratisch getroffene religionspolitische Entscheidung argumentiert ein von dem Düsseldorfer Psychosomatiker Matthias Franz publizierter Sammelband unter dem tendenziösen Titel Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis, an dem sich 15 Autoren, darunter zwei Frauen und ein jüdischer Mann, beteiligt haben. Die Beiträge widmen sich dem Thema auf unterschiedlichem Niveau aus kulturgeschichtlicher, urologischer, psychoanalytischer sowie juristischer Perspektive.

Strategisch geht es allen Beiträgen darum, eine künftige Aufhebung des Paragrafen 1631d zu befürworten – im Wissen darum, dass das juristisch schwer möglich sein wird. Zur Begründung dieser Aufkündigung des Rechtsfriedens bemühen die Autoren den empirisch kaum zu erbringenden Nachweis, dass die Beschneidung langfristig das sexuelle Empfinden von Männern beeinträchtigende Folgen habe, sowie grundrechtsdogmatische Argumente, die sich auf die UN-Kinderrechtskonvention und auf Artikel 1 des Grundgesetzes berufen.

fallgeschichten Zum Nachweis der Schädlichkeit der Beschneidung schildert etwa der Psychoanalytiker Matthias Franz eine Reihe durchaus lesenswerter Fallgeschichten von meist muslimischen Männern, die mitteilen, durch ihre Beschneidung psychisch geschädigt worden zu sein. Dass diese Fallgeschichten keine grundsätzliche, evidenzbasierte Stellungnahme gegen die (jüdische) Beschneidung erlauben, weiß der Autor selbst, muss er doch einräumen: »Die dargestellten Zusammenhänge sind in Teilen spekulativ, sie lassen sich aber im Sinne kasuistischer Evidenz belegen.«

Lässt sich wirklich in allen Fällen belegen, dass die nachträglich so gedeutete, angeblich traumatisch wirkende Beschneidung tatsächlich die monokausale Ursache der psychischen Störung war? Wie geradezu abenteuerlich spekulativ weitere Autoren des Sammelbandes vorgehen, wird etwa am Text des verstorbenen niederländischen Psychoanalytikers Adrian de Klerk deutlich. Behauptet er doch allen Ernstes, dass Sigmund Freud seinen jüdischen Namen Schlomo »aus unbewusstem Protest gegen das schmerzhafte Ritual der Brit Mila, bei dem er den Namen erhielt, entfernte«.

Bei alledem verwehren sich die Autoren gegen den Vorwurf der Judenfeindschaft. Freilich ist nicht zu übersehen, dass antisemitische Deutungsmuster in diesem Band spurenweise immer wieder auftauchen. Wie anders soll man die auf Seite 93 von einem Kinderarzt fett eingerückte Zwischenüberschrift »Beschneidung ist lukrativ« oder die von einer SPD-Politikerin aufgestellte Behauptung, jüdische Organisationen hätten im Vorfeld der Bundestagsentscheidung »unterschwellig bis offen mit allen Konnotationen« gearbeitet, bezeichnen?

Juristen Gleichwohl ist einzuräumen, dass es sich – sofern man diese Unterscheidung akzeptiert – insgesamt weniger um Antisemitismus denn um einen menschenrechtlich verbrämten Antijudaismus handelt, etwa bei dem Bochumer Juraprofessor Rolf Dietrich Herzberg, der bisher in theologischen Zusammenhängen nicht aufgefallen ist. So nutzt er die Debatte, um in einem ethisch-juristischen Text ein eigenes Glaubensbekenntnis abzulegen: »Auch ich vermag meinen Gott, dem ich Ehrfurcht schulde, nicht zu erkennen in jenem archaischen Wüstengott, der befiehlt, dass man Sodomiten töte und Kindern die Vorhaut abschneide.«

Ein anderer gegen die Zulässigkeit der Beschneidung argumentierender Jurist, der Mainzer Privatdozent Jörg Scheinfeld, fiel in den letzten Jahren vor allem dadurch auf, dass er den Richtern des »Kannibalen von Rothenburg«, der den Penis eines einvernehmlich getöteten Opfers verspeist hatte, nachweisen wollte, den Täter rechtsfehlerhaft wegen Mordes verurteilt zu haben – habe es sich doch um eine einvernehmliche »Tötung auf Verlangen« gehandelt.

Nicht wirklich überzeugt der einzige in diesem Band vertretene jüdische Autor: der Diplomingenieur Jerome Segal, ein in Wien tätiger Wissenschaftskoordinator, der die Beschneidung aus »jüdisch-humanistischer« Perspektive kritisiert. Nach einem instruktiven Abriss der Beschneidungsdebatte im deutschsprachigen Reformjudentum des 19. Jahrhunderts vermutet Segal, dass Kritik »aufgrund der tragischen Geschichte der Juden in Deutschland« akzeptabler sei, wenn sie nicht aus Deutschland kommt. Ob Segal weiß, dass das Adjektiv »tragisch« noch immer ein selbst verschuldetes Unglück bezeichnet? Wenn die Schoa etwas war, dann eine Katastrophe, keine Tragödie.

antijudaismus Als besonders problematisch erweist sich jedoch der differenzierte Beitrag des renommierten Erfurter Judaisten Andreas Gotzmann, dem die Forschung bahnbrechende Grundlagenwerke zum Verhältnis von Recht und Gemeinschaft im aschkenasischen Judentum verdankt. Und zwar nicht nur deshalb, weil Gotzmann von Herausgeber Franz in der Einführung irrtümlich als »jüdischer Intellektueller« präsentiert wird, sondern vor allem, weil Franz dem Autor attestiert, »als Judaist aus dezidiert jüdischer Sicht« zu argumentieren.

Nun ist Andreas Gotzmann kein Jude, sondern ein nichtjüdischer Judaist, ein Religions- und Kulturwissenschaftler. Man wird daher fragen müssen, ob er legitimerweise von einer Frage spricht, »die sich aus jüdischer Perspektive stellt«. Das damit aufgeworfene grundsätzliche Problem besteht in der Frage, ob es möglich ist, die interne Perspektive – in sich durchaus pluralistischer – Religionsgemeinschaften stellvertretend von außen einzunehmen.

rechtsgrundlagen
Am Ende seines Beitrages schreibt Gotzmann von »Vertretern der jüdischen Gemeinschaft, auf deren Forderung hin zentrale Rechtsgrundlagen insgesamt infrage gestellt wurden«. Bisher war davon auszugehen, dass die deutsche Nachkriegsjudaistik mit Juden und Judentum sympathisierte und darum bemüht war, der antijudaistischen Mehrheit in Wissenschaft und Gesellschaft das Judentum nicht nur intellektuell nahezubringen. Womöglich signalisiert Gotzmanns Beitrag das Ende dieser Epoche, womöglich wird sich die jüdische Gemeinschaft auf eine neue, »judentumskritische« Judaistik einstellen müssen.

Vielen durchaus lesenswerten, vor allem religions- und kulturhistorischen Beiträgen zum Trotz erweist sich der Band insgesamt als ein in frühaufklärerischem, selbstgerechtem Duktus gehaltenes Traktat zur »Verbesserung der Juden«. »Es bleibt«, so etwa der Neonatologe von Loevenich, »ein ethisches Postulat, unsere mosaischen und muslimischen Mitbürger immer wieder auf diesen Satz (Art 24 der Kinderrechtskonvention, M.B.) hinzuweisen und für die Unterlassung ritueller Beschneidungen taktvoll zu werben.« Der Begriff »Takt« bezeichnet gemeinhin die Kunst des Unausdrücklichen. Wenn etwas den vorliegenden Band neben seinem durchgängigen Antijudaismus charakterisiert, dann sein Mangel an Takt.

Matthias Franz (Hg.): »Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis«. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, 448 S., 29,99 €

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