Nachruf

Gelehrter und Streiter

Eberhard Jäckel (1929–2017) Foto: dpa

Nachruf

Gelehrter und Streiter

Zum Tod des Historikers und Holocaust-Forschers Eberhard Jäckel

von Rabbiner Andreas Nachama  21.08.2017 19:40 Uhr

Der Historiker Eberhard Jäckel ist am 15. August 88-jährig in Stuttgart verstorben. Letztmalig habe ich ihn am 17. Mai in der Kuratoriumssitzung der Stiftung Denkmal für die Ermordeten Juden Europas gesehen, an der er trotz seines hohen Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit regen Anteil nahm. Beim Shakehand erkundigte er sich, wie bei jedem Zusammentreffen in den letzten Jahrzehnten, nach einer bei ihm promovierten Historikerin, die Kuratorin bei der Stiftung Topographie des Terrors ist, und freute sich immer, wenn er über neuere von ihr kuratierte Ausstellungen hörte.

Wie kaum ein anderer hat sich Jäckel mit dem Mord an den europäischen Juden, mit der Geschichte des »Dritten Reiches« auseinandergesetzt. Seine Habilitationsschrift von 1966, Die deutsche Frankreichpolitik im 2. Weltkrieg, ist noch heute ein Standardwerk. 1969 hat Eberhard Jäckel das wichtige Buch über Hitlers Weltanschauung geschrieben, in dem er die Bedeutung des Antisemitismus für den Nationalsozialismus und die Politik des »Dritten Reiches« herausgearbeitet hat. Dieses Buch wird oft als »bahnbrechend« charakterisiert.

Dokumente In meinem Bücherschrank ist das wichtigste Werk von ihm die zusammen mit Otto Dov Kulka (Hebräische Universität Jerusalem) 2004 vorgelegte, vom Bundesarchiv betreute Quellenedition Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933–1945. Kulka und Jäckel stellten das Werk am 28. September 2004 in der Topographie des Terrors vor, wo Jäckel bereits zuvor immer wieder auf Podien und mit Beiträgen wichtige Anstöße zur Sicht auf den Nationalsozialismus und den Mord an den europäischen Juden gegeben hatte.

Diese Quellenedition ist geradezu eine Fundgrube für Dokumente über das Leben und die Situation der Juden, soweit die NS-Herrschaft reichte: »Auf der Basis von jahrelangen, fast flächendeckenden Recherchen konnten 752 Dokumente bzw. Dokumentauszüge für den fast 900 Seiten umfassenden Band aus über 50 in- und ausländischen Archiven zusammengetragen werden. Die dem Buch angefügte CD-ROM, auf der der Gesamtertrag der Recherchen präsentiert wird, umfasst sogar 3744 Dokumente. […] Diese Edition ist zweifellos von herausragender Bedeutung für die künftige Forschung zur jüdischen Geschichte und zur Judenverfolgung und zum Judenmord in Deutschland«, so charakterisiert Bernward Doerner vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin das Jahrhundertwerk, das allein dafür reichen würde, Jäckel und seinem israelischen Mitstreiter Kulka einen Ehrenplatz in der ersten Reihe der Holocaustforscher zu garantieren.

Aber Eberhard Jäckel war nicht nur lehrender und forschender Historiker, sondern auch ein vom Engagement für Demokratie und politische Verantwortung beseelter Mensch. Er wirkte weit über den Hörsaal und den Kreis der Leser seiner wichtigen Werke hinaus in eine breite Öffentlichkeit. Er gehörte zu denjenigen, die sich 1972 für Willy Brandt und seine auf Versöhnung ausgerichtete Ostpolitik engagierten.

Mahnmal Fast zwei Jahrzehnte, von 1988 bis zur Eröffnung im Mai 2005, kämpfte eine Bürgerinitiative, organisiert in einem Förderkreis, an der Spitze die Fernsehjournalistin Lea Rosh und Eberhard Jäckel, für die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Am 25. Juni 1999 beschloss der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit den Bau des Denkmals nach einem Entwurf des New Yorker Architekten Peter Eisenman. Lea Rosh würdigt Eberhard Jäckel in ihrem Nachruf als ihren »ältesten, wichtigsten Freund« und »Weggefährten«, mit dem sie gemeinsam »etwas Großes erreicht« habe, nämlich das Denkmal, das er ihr vor Jahrzehnten in Yad Vashem ans Herz gelegt hatte. Nach Jahren des gemeinsamen Engagements für dieses Denkmal haben sie »diesen Kampf gewonnen«.

Eberhard Jäckel wirkt auch über seinen Tod hinaus als wichtiger Forscher zum Thema Nationalsozialismus durch seine Werke und durch die von ihm edierte Quellenedition, an der kein Historiker vorbeikommt, der sich mit der Zeit beschäftigt. Als »homo politicus« bleibt er unvergesslich, weil er ganz wesentlichen Anteil an der politischen Durchsetzung und Realisierung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas hatte. Mit seinem Tod verliert die jüdische Gemeinschaft in Deutschland einen Freund und Mitstreiter.

Der Autor ist Historiker, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors und Gemeinderabbiner in Berlin.

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