Eigentlich sollte es ganz einfach werden, dachte sie. Ein Album aufnehmen, grenzüberschreitend, mit Künstlern in einem anderen Land. Technisch gar kein Problem. Und auch die Kontakte hatte Liraz Charhi, die israelische Sängerin mit persischen Wurzeln, schnell geknüpft.
Ein digitaler Aufruf, und es meldeten sich zahlreiche iranische Künstler, die mit ihr zusammen Musik machen wollten. »Das war mein größter Traum«, sagt sie im Interview mit israelischen Medien: ein israelisch-iranisches Musikprojekt.
Projekt Dann folgten schlaflose Nächte. Und Angst. »Die Leute haben mir gesagt: Du musst auf alle aufpassen«, erzählt Charhi. Der Iran und Israel sind – trotz aller zwischenmenschlichen Freundschaften – Erzfeinde. Für das Mullah-Regime kommt die Zusammenarbeit mit Israelis einer Todsünde gleich. Für Charhis iranische Kollegen konnte das Projekt also zur Gefahr werden. »Es war eine Achterbahnfahrt«, erinnert sie sich. Aufgegeben hat sie nicht – dafür aber auf die Nennung der Namen ihrer iranischen Partner verzichtet. Herausgekommen ist das neue Album Zan, übersetzt: »Frauen«.
Die Namen ihrer iranischen Partner nennt sie nicht – zu deren Schutz.
Es sind Klänge, wie man sie auf iranischen Untergrund-Partys erwartet – oder in einfachen Hinterhofbars in Tel Aviv, wo es immer ein bisschen nach Marihuana und Arak riecht. Elektronisch, psychedelisch, retro, gepaart mit traditionellen Instrumenten. Auf dem Album sind selbst getextete Lieder und Versionen alter persischer Lieder – wie das Gutenachtlied »Lalei«, das, wie Liraz Charhi sagt, seit Generationen in ihrer Familie gesungen wird. Es ist ein Album für Frauen, über Frauen – und mit Frauen. »Ich singe, weil Frauen in den vergangenen 42 Jahren zum Schweigen gebracht wurden. Ich singe zu ihnen und mit ihnen«, hat Liraz auf Facebook geschrieben. Das heißt aber nicht, dass Männer nicht dazu tanzen sollten.
Liraz Charhi, 42 Jahre alt, ist in diesem Album – wie bereits 2018 mit Naz – ihren familiären Spuren nachgegangen. »Ich habe dieses Album gemacht, um meine Sehnsucht zu stillen.« Sehnsucht nach einem Land, das sie noch nie gesehen hat.
SEHNSUCHTSLAND Ihre Eltern stammen beide aus dem Iran, der Vater kam 1964 nach Israel, die Mutter machte 1970 Alija. Es war die Zeit vor der Islamischen Revolution, als die iranisch-israelischen Beziehungen auch auf nationaler Ebene noch freundschaftlich waren: Der Iran erkannte Israel an, versorgte das Land im Jom-Kippur-Krieg 1973 mit Öl, gegenseitige Besuche waren möglich. Dann kam 1979, Ayatollah Chomeini übernahm die Macht, und Israel wurde zum »kleinen Satan« – neben dem »großen«, den USA.
Für Israelis wie Liraz Charhis Eltern wurde die alte Heimat damit unerreichbar – ein Sehnsuchtsland, das nur noch in Geschichten, Bildern, Liedern zu erleben war. Charhi wuchs damit auf. Von ihrer Familie hörte sie Erzählungen, wie schön der Iran sei, wie talentiert die Menschen dort. Im Fernsehen hörte sie hingegen von Ahmadinedschad, von einem extremistischen Regime, Islamismus und von Frauen, die nicht singen und ihre Stimme nicht erheben dürfen.
Ihre Kindheit war schwierig. »Ich fühlte mich sehr iranisch, gleichzeitig aber auch sehr israelisch. Ging ich von daheim in die Schule, fühlte ich mich, als reiste ich in ein anderes Land. Wer bin ich? Was ist meine Identität?« Charhi nutzte die Kunst, um sich diesen Fragen zu widmen. »Ich trug ein großes Loch in meinem Herzen«, sagt sie im Gespräch mit israelischen Medien. Sie hat versucht, es mit ihrem iranischen Erbe zu füllen.
TEHERANGELES Zur Musik kam sie, als sie bereits ihre ersten Rollen spielte. Sie war in den USA unterwegs, in Los Angeles, einer Stadt mit Hunderttausenden Exiliranern. L.A. wird deshalb auch »Teherangeles« genannt – und gilt als die größte persische Diaspora der Welt. Mittendrin war Liraz Charhi. »Ich fühlte mich, als ob plötzlich ein Baby in meine Arme fiele, ich muss es halten und zu ihm in Farsi singen.«
In ihrer Familie ist sie damit nicht allein: Ihre Tante ist die bekannte israelische Sängerin Rita, die ebenfalls Alben auf Persisch herausgebracht hat. Liraz Charhis erstes Album erschien vor zwei Jahren. Es brachte Charhi um die Welt – und in Kontakt mit Iranern ihrer Generation.
NAz »Menschen aus Teheran haben angefangen, mir online zu folgen, vor allem Frauen.« Naz, so der Name des ersten Albums, ist ein persisches Wort, das beschreibt, wie sich iranische Frauen verhalten sollen: kokett. »Die Frauen waren erfreut, eine israelische Sängerin zu hören, auf Farsi, die sich selbst präsentiert.«
Auch sie habe sich den iranischen Frauen geöffnet – ihre Geschichten und Posts gelesen. Besonders begeistert hätten sie die Videos von iranischen Untergrund-Partys, bei denen die Menschen zu ihrer Musik tanzten. Auf Konzerten in Europa habe sie dann viele Iraner auch persönlich getroffen.
Nach ihrem ersten Album begannen Iranerinnen, ihr auf Social Media zu folgen.
Auch schauspielerisch hat sie seither ihren Wurzeln nachgespürt, in dem Apple-TV-Thriller Tehran. Sie spielt die Rolle der Mossad-Agentin Yael Kadosh, die ebenfalls iranische Wurzeln hat. »Ich habe mich mit der Figur identifiziert«, erzählt sie in einem Interview über ihre Rolle. Auch Yael stelle sich die Identitätsfrage: Ist sie Iranerin? Oder Israelin? Die Serie brachte Liraz Charhi in Kontakt mit Iranern – am Filmset. Gedreht wurde in Griechenland. »Als wir uns am Set trafen, 50, 60 Schauspieler aus der ganzen Welt, die den Iran irgendwann verlassen hatten: Es war, als würde ich meinesgleichen treffen.«
Kampagne Mit ihrer Sehnsucht nach Kontakten und dem Ziel, Brücken zu bauen, ist Liraz Charhi in Israel nicht allein. Im Jahr 2012, als es so aussah, als könnte ein Krieg zwischen Israel und dem Iran ausbrechen, startete ein Tel Aviver Grafikdesigner eine Kampagne: Er lud auf Facebook ein Bild von sich und seiner kleinen Tochter mit einem Plakat hoch. Darauf stand: »Iraner: Wir werden euer Land niemals bombardieren. Wir lieben euch.« Das Bild ging viral, zig Israelis schlossen sich an, aus dem Iran kamen ähnliche Botschaften zurück. Israelis, wir lieben euch.
Liebe – das ist auch ein Wort, das Liraz Charhi benutzt, wenn sie von den iranisch-israelischen Beziehungen spricht. Und von ihrem neuen Album, der Kooperation mit iranischen Kollegen: »Ich liebe sie, sie lieben mich, wir unterstützen uns und würden so gerne das Land der anderen besuchen.« Die Angst, die der Kooperation innewohnte, habe sie genau damit überwunden. Und ihren Traum erfüllt.
Liraz Charhi: »Zan«. Glitterbeat/Indigo 2020