Malerei

First Ladys der Abstraktion

Foto: Klaus Helbig

Ein 80-Millionen-Euro-Bauwerk, das mit kubischer Strenge auf vornehme Provokation im gründerzeitlich geprägten Wiesbaden setzt – mit dem Museum Reinhard Ernst (mre), das vor gut einem halben Jahr unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet wurde, gelang dem japanischen Architekten Fumihiko Maki, der kurz vor der Eröffnung im Alter von 95 Jahren verstarb, ein großer minimalistischer Wurf, und das auch aus urbanistischer Sicht.

Weiß wie eine Leinwand gibt sich das Museum – dank edlen Granits aus den USA –, als Salon für abstrakte Malerei nach 1945, zugleich das Geburtsjahr des namensgebenden Mäzens aus dem Westerwald, der es der Stadt und natürlich auch sich selbst spendierte. Ernsts Kunstsammlung mit Colourfield Painting und Informel als Schwerpunkten wurde diese architektonische Schatztruhe mit einer Ausstellungsfläche von 2500 Quadratmetern quasi auf den Leib gezimmert. Bis Ende Dezember 2024 zählte das Museum mehr als 100.000 Besucher.

Natürlich braucht so ein Klotz auch eine zweite Deutung. Vom »Zuckerwürfel« spreche der Volksmund, weiß Gründungsdirektor Oliver Kornhoff zu berichten. De facto sind es sogar zwei. Denn den Gebäudekomplex erschließt ein Atrium mit einem japanischen Fächerahorn als Signatur, eingebettet in ein Meer aus weißen Kieseln. Das funktioniert nicht zuletzt aufgrund der Werke aus der »Moby Dick«-Reihe des Weltstars Frank Stella.

Was leistet abstrakte Kunst für die bildhafte Vorstellung?

Insbesondere seine Interpretation von Melvilles Wal lässt das mre die Grundsatzfrage stellen: Was leistet abstrakte Kunst für die bildhafte Vorstellung? Von Anni Albers bis Frank Stella – bemerkenswert vielen Künstlern mit jüdischem Hintergrund verdankt das Haus seinen Ruf. Ihre Werke sind seine Säulen. Das 120 Seiten umfassende Magazin des Museums spiegelt das aber nicht wider. Es widmet diesem Aspekt keinen Beitrag, obwohl mehrere bedeutende Jahrestage in die Zeit seiner Eröffnung fielen. So verstarb 2024 Frank Stella, der Todestag von Lee Krasner jährte sich zum 40. Mal, der von Friedel Dzubas zum 30. Mal.

Allerdings kennt kaum jemand Dzubas, den Vertreter der zweiten Generation des abstrakten Expressionismus, den die deutsche Avantgarde wie die »Brücke« und den »Blauer Reiter« stark beeinflusste. Dzubas erkennt dort das »tiefe Gefühl« und die »Leidenschaft«, die seine eigenen Farbwelten grundieren werden. »Farbe ist eine emotionale Angelegenheit«, sagte er einmal.

Im amerikanischen Exil wurde das Jüdischsein des gebürtigen Berliners ebenfalls nicht thematisiert, worunter er litt. Denn Identitätssuche ist eingewoben in seine Kunst – schließlich ist das Sieben-Meter-Bild »Argonaut« von 1983 keine vordergründige Hommage an den antiken Mythos, sondern widmet sich genau diesem Thema.

Von Anni Albers bis Frank Stella – jüdischen Künstlern verdankt das Haus seinen Ruf.

1939 musste der Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter emigrieren. Zunächst arbeitete er in Virginia mit jüdischen Jugendlichen. Dann fasste er Fuß in New York.

Es entwickelte sich eine Freundschaft mit Clement Greenberg. 1952 teilte sich Dzubas das Atelier mit Helen Frankenthaler, eine der Lieblingskünstlerinnen von Reinhard Ernst. 46 Arbeiten hat er von ihr, von ihrer Kollegin Lee Krasner dagegen bisher nur eine einzige. Frankenthaler begeistert ihn mit »ihrem unverwechselbaren Stil und den aufregenden Farben«, so der Sammler. »Krasner hat ebenfalls einen eigenen Stil, ist allerdings weitaus experimentierfreudiger.«

Beide sind dennoch in ihrer Zeit die »First Ladys« der Abstraktion. »Beide waren mit starken Männern zusammen und haben gelernt, sich durchzusetzen«, so Ernst. Dasselbe mag man über die als Annelise Fleischmann geborene Anni Albers sagen, deren Mutter aus der jüdischen Verlegerfamilie Ullstein stammte. Persönlich kennengelernt hat Ernst keine dieser Frauen.

Die Eröffnungsschau ist additiv, setzt auf Migration von Farbe und Form

Ob das mre die Geschichte des abstrakten Expressionismus auserzählt? Die Eröffnungsschau ist additiv, setzt auf Migration von Farbe und Form. So flankiert Lee Krasners »Pfau« eine Arbeit des in Tel Aviv geborenen Künstlers Tal Rosenzweig, der sich Tal R nennt.

Für das Schaffen des jüdischen Amerikaners Adolph Gottlieb begeistert sich Ernst ebenso wie für den »Cobra«-Maler Pierre Alechinsky, der russisch-jüdische Wurzeln hat. Sein großer Verdienst ist es, das Augenmerk darüber hinaus auf hierzulande weitestgehend unbekannte jüdische Künstler wie Jules Olitski, Ruth Francken oder Perle Fine zu lenken.

Begeistert zeigt sich Ernst insbesondere von Frankenthaler, die einst seine Sammelleidenschaft beflügelte. »Hätte ein Mann gemalt wie Frankenthaler, wäre er mein Lieblingskünstler.« Heute besitzt das Museum Reinhard Ernst rund 1000 Arbeiten. Umso bedauerlicher, dass Helen Frankenthaler zur Eröffnung keinen eigenen Saal bekam.

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