TV-Erstausstahlung

»Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen«

Moderator Knut Eltermann und Regisseur Radu Jude (r.) bei der Berlinale 2020 Foto: imago images/Seeliger

»Wie würden Sie rennen, wenn man Sie anzünden würde?«, will die junge Theaterregisseurin Mariana Marin von einem Komparsen wissen, während seine Frau ein weinendes, um Gnade flehendes Opfer mimen soll. Was im ersten Moment nach recht bizarren Regieanweisungen klingt, fügt sich in Radu Judes Geschichtsschreibungsfilm nach und nach zu einem hochdiskursiven, aus unzähligen Fragmenten bestehenden Historienbild.

BESATZUNG Thema von Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen (2018) ist die oft relativierte, marginalisierte oder schlicht totgeschwiegene Beteiligung Rumäniens am Holocaust. Zwischen 1941 und 1944 deportierte und ermordete die rumänische Armee unter General Ion Antonescu über 300.000 Juden und Roma aus Rumänien und den besetzten Gebieten. Allein nach der Einnahme von Odessa im Oktober 1941 fielen in nur wenigen Tagen mehrere zehntausend Juden einem Massaker zum Opfer; ein Bombenattentat sowjetischer Partisanen lieferte dabei die willkommene Rechtfertigung.

Inzwischen sind die Verbrechen des Antonescu-Regimes zwar auch von rumänischen Historikern aufgearbeitet worden, doch in der breiten Öffentlichkeit ist davon bis heute wenig zu spüren. In einem schwer zu entwirrenden Knäuel aus nationalen Mythen und Gerüchten, selektiven und verzerrten Informationen konnte nach 1989 gar ein regelrechter Antonescu-Kult seine Blüten treiben.

VOLKSTHEATER Regisseurin Marin ist wissbegierig, furchtlos und hat eine Mission. Mit einer großangelegten Volkstheater-Aufführung möchte sie das falsche Bild korrigieren und eine Debatte anstoßen. Reenactment ist dabei mehr als nur Geschichte »nachzuspielen«.

Theater wie Film nähern sich dem vergangenen Geschehen mal auf situationskomische, mal auf debatten- oder rechercheorientierte Weise. In einer unaufhörlichen Bewegung werden Informationen, Literaturverweise, Fakten und Anekdoten aufgesammelt und eingebaut.

»BASISLAGER« Das Theaterteam hat sein »Basislager« in einem Militärmuseum aufgeschlagen. Panzer, Uniformen und Schusswaffen, die wie Trophäen aufgereiht sind, bilden ein permanentes Hintergrundbild für Marins hitzige Diskussionen mit Mitarbeitern und Komparsen. Widerstand bekommt sie nicht nur von einigen Statisten, die ihr anti-rumänische Umtriebe vorwerfen, sie sexistisch beleidigen oder sich darüber beklagen, dass sie als Darsteller von Juden mit »Zigeunern« gemischt werden.

Ein Abgesandter der Stadtregierung droht, ihr Projekt zu kippen, sollte die Theatermacherin nicht auf die Darstellung des Massakers verzichten. Zwischen beiden entspinnt sich ein dynamisches Streitgespräch über Geschichtsschreibung, Aufarbeitung und Erinnerungskultur. Seinen Zensurversuch umgeht sie schließlich mit einem subversiven Manöver.

Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen (der Titel ist ein wörtliches Zitat aus Antonescus Ministerrat) berührt immer wieder auch Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Ästhetik – und nach der Wirksamkeit politischer Kunst überhaupt. Marins Theaterkonzept trifft dabei auf Forderungen nach einem schlichten Wiedergaberealismus.

Radu Jude positioniert sich nicht zuletzt als Filmemacher, der Politik und Form untrennbar zusammen denkt. Der selbstgerechte Ton, der manch diskursiv angelegte Arbeit auszeichnet, fehlt ebenso wie jede empörungsrhetorische Didaktik. Dazu ist Judes Form viel zu verschlungen, das Material zu expansiv, der Humor zu trocken.

VIDEOLOOK Und anstatt sich in einer moralisch überlegenen Position einzurichten, lässt er Marins Experiment, das in einem absichtsvoll hässlichen Videolook gefilmt ist, auf unerwartete Weise aufs falsche Gleis geraten.

Das Publikum begrüßt die Wehrmachttruppen und General Antonescu. Und bei der Szene, in der die Juden Odessas in ein Gebäude getrieben und verbrannt werden, gibt es Applaus. Was als politischer Wachrütttler gedacht war, gerät zum identitätsstiftenden Entertainment. Der Kulturbeauftragte ist zufrieden – und empfiehlt Marin, im nächsten Jahr doch ein Stück über die Massaker an den Herero zu machen. kna

»Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen«, Mittwoch, 28. April, 22.35 – 00.50 Uhr, Arte (TV-Erstausstrahlung

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024