9. November

Feuer auf dem Gutshof

Die ehemalige Israelitische Gartenbauschule Ahlem bei Hannover Foto: dpa

»Es war schrecklich«, erinnert sich Irmgard Jourdain an die Folgen der reichsweiten Pogrome im November 1938 auf dem Auswandererlehrgut Groß Breesen in Schlesien. Die SA drang in die Gebäude ein, zerstörte Fensterscheiben, stahl Fotoapparate und Musikinstrumente. Die Uniformierten verhafteten alle über 18-jährigen Jungen, unter ihnen der spätere Vorsitzende der Axel-Springer-Stiftung, Ernst Cramer, und verschleppte sie in das KZ Buchenwald, gemeinsam mit ihrem Leiter und »Hausvater«, dem Psychologen Curt Bondy.

Groß Breesen war kein Einzelfall. Überall in Deutschland brannten nicht nur Synagogen und wurden jüdische Geschäfte zerstört. Auch die zionistischen Ausbildungs- und Berufsumschichtungsstätten, in denen sich junge Menschen »auf Hachschara« auf die Auswanderung vorbereiteten, sowie auch die nicht-zionistischen wie Groß Breesen waren Ziel antisemitischer Ausschreitungen. In der Jüdischen Ausbildungsstätte Urfeld in Wesseling bei Bonn verprügelten Unbekannte die Praktikanten und zerstörten das Inventar. Der nichtjüdische Besitzer der Einrichtung gewährte einigen von ihnen Unterschlupf in seinem Keller, um sie zu schützen.

In Polenzwerder bei Eberswalde, erinnert sich Henry Jacoby in einem Interview mit der Shoah Foundation, tauchte die Gestapo auf, alle mussten sich auf den Boden legen und zählen lassen. Eines der Häuser auf dem Gut ging in Flammen auf. Über die wohl dramatischste Situation berichtet die ehemalige Praktikantin Annette Eick, die damals auf dem Jagdgehöft Freund in Havelberg/Brandenburg lebte. In dieser Nacht habe die Frau des Leiters ihr Baby verloren. Es sei niemand vor Ort gewesen, der ihr hätte bei der Geburt assistieren können.

rettend Der November 1938 markierte eine weitere Etappe auf dem Weg der Vertreibung der deutschen Juden, die ab 1941 in die Schoa mündete. Die Hachschara, das gezielte Training junger Juden für die Auswanderung nach Eretz Israel, konnte von nun an lebensrettend sein. Überall im Reich gab es Auswandererlehrgüter wie in Rüdnitz bei Bernau, Schniebinchen (heute Polen), Neuendorf im Sande, Steckelsdorf oder Gut Winkel bei Spreenhagen in der Mark.

Die älteste Einrichtung war die Israelitische Gartenbauschule in Ahlem bei Hannover, 1893 gegründet und seit den 30er-Jahren Ausbildungsort. In Hamburg und Berlin existierten mehrere Lehrwerkstätten, die wohl größte in Pankow-Niederschönhausen. Und auch nach den Pogromen eröffnete die Reichsvertretung der Deutschen Juden weitere Hachschara-Stätten: Gut Skaby bei Spreenhagen oder Eichow bei Cottbus. »Aufbau im Untergang«, nannte es der Religionsphilosoph Ernst Simon.

Die Hachschara (hebr. »Vorbereitung, Tauglichmachung«) hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa das Ziel der geistigen und handwerklichen Vorbereitung der Jugend für ein Leben in Eretz Israel gesetzt. Ihre Geburtsstunde wird in Deutschland auf die Gründung des deutschen Ablegers des jüdischen Weltverbandes Hechaluz (»Der Pionier«) im Jahr 1922 datiert. 1935 folgte die »Mittleren-Hachschara« für die 15- bis 17-Jährigen. Sie konnten nun ihre gewaltsam unterbrochene Schul- oder Berufsausbildung fortsetzen.

fluchtgedanken Doch nicht alle gingen aus Überzeugung »auf Hachschara«, pragmatische Erwägungen und Fluchtgedanken spielten auch eine Rolle. Gert Sommerfeld war noch ein Kind, als er seinen ersten Zeppelin am Himmel sah. Er war stolz, so berichtet er, ein deutscher Junge zu sein. »Wir sangen ›Deutschland, Deutschland über alles‹.« Die Enttäuschung über die antisemitischen Anfeindungen seiner »Freunde« und die erzwungene Emigration ist dem fast 93-Jährigen, aufgewachsen am Berliner Arnswalder Platz, noch heute anzumerken. Auch er lebte »auf Hachschara«: »Havelberg, Neuendorf, Schönfelde, Orte meiner schönsten Jugendjahre. Raus aus der Stadt, frische Landluft, Kartoffeln buddeln, Rüben ernten, Bäume fällen, Jugend aus allen Ecken des Landes treffen, mit ihnen leben und Freundschaft schließen.«

Auch andere Zeitzeugen erinnern sich gern an das Gemeinschaftsleben und erhitzte Diskussionen sowie an frisch erwachte Liebesbeziehungen. Untergebracht in Gruppen Gleichaltriger, erlebten die Chaluzim (»Pioniere«) eine ungewohnte Freiheit, trafen eigene Entscheidungen, fanden Freunde und Lebenspartner. Viele aus assimilierten Familien stammende Chaluzim fanden »auf Hachschara« den Weg zum Judentum.

Trügerisch »Die Madrichim haben mir beigebracht, ein Ziel zu verfolgen«, sagt Werner Coppel aus Moers. Hier waren die jungen Leute nicht mehr »anders«, weil sie Juden waren. Doch das Idyll war trügerisch. Jenny Aloni, Madricha und später israelische Schriftstellerin, hielt fest: »Wer sollte bleiben für Viehwaggons, die nach dem Osten rollten? (…) ›Glückliche Insel‹ nannten sie das Gut, auf dem sie arbeiteten und lernten.« Doch bei Kriegsbeginn gab es kaum noch einen Ausweg aus Deutschland. »Die Mausefalle«, so Aloni, war »zugeschnappt«. Mit dem Emigrationsverbot 1941 endete auch die Hachschara, die Ausbildungsstätten wurden Zwangsarbeitslager.

Einer der wenigen, die im Untergrund bis zur Befreiung überlebten, war der spätere TV-Moderator Hans Rosenthal, zuvor »auf Hachschara« in Jessen in der Niederlausitz. Zwischen 1933 und 1941 konnten mehr als 66.500 Menschen durch Berufsausbildung und -umschichtung auf ihre erzwungene Emigration vorbereitet werden und das Land noch vor dem Völkermord verlassen. Die letzten ehemaligen Chaluzim wurden im April 1943 aus dem Landwerk Neuendorf, nun Sammellager für Deportationen, nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

Gert Sommerfeld blieb dies erspart, er erreichte 1940 mit dem Flüchtlingsschiff »Patria« den Hafen von Haifa. Wie er, lebt eine ganze Generation von »Jeckes«, die aus Deutschland vertrieben wurden oder die KZs überlebten, bis heute mit der Erinnerung an die prägenden Jahre »auf Hachschara«.

Die Autorin war von 2000 bis 2012 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin tätig und ist heute Redakteurin der Zeitschrift WerkstattGeschichte.

Andrea Kiewel

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