Nachruf

Fährmann zwischen Frankreich und Deutschland

Alfred Grosser (1925–2024) Foto: picture alliance/dpa

Auf die Frage nach seiner Nationalität gab es bei Alfred Grosser nur eine Antwort, und zwar Franzose. Der Sohn einer jüdischen Familie war 1933 als Achtjähriger zusammen mit seinen Eltern und der Schwester von Frankfurt am Main nach Frankreich emigriert. Dort starb sein Vater Paul, ein renommierter Kinderarzt, schon wenige Wochen später an Herzversagen. Mutter und Kinder dagegen bekamen 1937 die französische Staatsbürgerschaft verliehen, zu der sich Grosser immer bekennen sollte. »Ein Leben als Franzose« lautete folgerichtig der Titel der Autobiografie des Politologen, der nun am 7. Februar in Paris im Alter von 99 Jahren verstarb.

Seine akademische Karriere machte Grosser zu einem der Wegbereiter der deutsch-französischen Verständigung, die 1963 im Élysée-Vertrag festgeschrieben wurde. Als »Fährmann zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen seinem jüdischen Erbe und seinen christlichen Überzeugungen« beschrieb ihn die Historikerin Marie Scot von der renommierten Politikhochschule Sciences Po, an der er mehrere Jahrzehnte lang unterrichtete.

Der Beginn des unermüdlichen Erklärens

Nach dem Krieg studierte Grosser zunächst Germanistik, um sich dann der Politikwissenschaft zuzuwenden. In seinen Vorlesungen saßen viele Männer und Frauen, die später hochrangige Politiker, Journalistinnen oder Wissenschaftler wurden. Wer die Ausführungen des »Herrn Professors« nicht persönlich hören konnte, las zumindest die zahlreichen Bücher oder Artikel, die der Publizist für Zeitungen wie »La Croix« oder »Le Monde« verfasste. Trotz der tragischen Familiengeschichte wollte der Politologe nie von einer Kollektivschuld der Deutschen sprechen, »egal, wie monströs die Verbrechen waren und wie hoch die Zahl der Kriminellen«, wie er 1997 schrieb.

1947 kehrte Grosser zum ersten Mal in das vom Krieg zerstörte Deutschland zurück. »Alles hat wirklich mit dieser Reise begonnen«, erinnert er sich später in seinen Memoiren. Mit »Alles« war sein unermüdliches Erklären Deutschlands in Frankreich und Frankreichs in Deutschland gemeint.

Als Grenzgänger sah er Parallelen, die für andere nicht sofort erkennbar waren. Und im Deutschen Bundestag berichtete er 2014 als Redner zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, wie jüdische Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten des Rheins diskriminiert wurden. So habe sein Vater den Entschluss, aus Deutschland auszuwandern, nicht deshalb gefasst, weil er 1933 seine Kinderklinik verloren und ein Vorlesungsverbot erhalten habe. Vielmehr sei die Emigration eine Reaktion auf die Aberkennung des Eisernen Kreuzes Erster Klasse gewesen, das Grosser senior für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg erhalten hatte. »In Frankreich ist es den jüdischen ›anciens combattants‹ ähnlich ergangen.«

Kritik an Israel

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, erfuhr Alfred Grosser im Hörsaal von dem historischen Ereignis. Der frühere Regierungschef Édouard Philippe berichtete Jahre später mit leuchtenden Augen, wie er zusammen mit deutschen Studentinnen und Studenten in Grossers Vorlesung saß, als der Rektor hereinkam und die Nachricht verkündete. Die Anwesenden jubelten und fielen sich einander in die Arme. »Ich weiß nicht, was mich mehr freut: dass die Mauer gefallen ist oder dass Sie so reagieren«, sagte Grosser.

In Deutschland sah er sich in den vergangenen Jahren dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt, weil er Israel für sein Vorgehen gegen die Palästinenser kritisierte. Als er 2010 bei der Gedenkfeier zur Pogromnacht in der Frankfurter Paulskirche sprechen sollte, hielt ihn die jüdische Gemeinde für den falschen Redner zur falschen Zeit. Der Gemeindevorsitzende Salomon Korn drohte sogar damit, bei einer böswilligen Israel-Kritik die Zeremonie zu verlassen. Grosser forderte Mitgefühl für »das große Leiden in Gaza«, doch der befürchtete Eklat blieb aus. Seine Rede sei im »Rahmen des Tolerablen« geblieben, sagte Korn hinterher.

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Wieder hat sich Regisseur Philipp Stölzl kräftig vom Bestseller-Autor Noah Gordon anregen lassen

von Peter Claus  19.12.2025

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025

Ausstellung

Pigmente und Weltbilder

Mit »Schwarze Juden, Weiße Juden« stellt das Jüdische Museum Wien rassistische und antirassistische Stereotype gleichermaßen infrage

von Tobias Kühn  18.12.2025

Kulturkolumne

Vom Nova-Festival zum Bondi Beach

Warum ich keine Gewaltszenen auf Instagram teile, sondern Posts von israelischen Künstlern oder Illustratorinnen

von Laura Cazés  18.12.2025

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025