Holocaustüberlebende

»Es war schwer, für das Buch so tief zu gehen«

Rachel Hanan lebt in Haifa. Foto: picture alliance/dpa/Penguin Random House Verlagsgruppe

Holocaustüberlebende

»Es war schwer, für das Buch so tief zu gehen«

Nur wenige Menschen haben Auschwitz überlebt. Rachel Hanan ist eine von ihnen. Über Jahrzehnte hat sie ihre Geschichte und die damit verbundenen Gefühle für sich behalten. In ihren Memoiren hat sie nun ihre Erfahrungen vor, während und nach dem Holocaust veröffentlicht

von Weronika Peneshko  20.01.2023 14:20 Uhr

Überleben. Und dann Überlebende sein. Das ist Rachel Hanan etwa seit ihrem 16. Lebensjahr. Ein Jahr zuvor, ziemlich genau an ihrem 15. Geburtstag, war sie ins Vernichtungslager Auschwitz gekommen. An diesem Tag verlor sie ihre Mutter Ethel und ihren Vater Fivish, ihre Brüder Zvi und Yehuda. An welchem Tag auch ihre Schwester Chaya und deren Tochter Etia getötet wurden, ist nicht bekannt.

Damals wusste sie das alles aber noch nicht. Sie wusste nicht, was nach der Selektionsrampe kommt. Und sie wusste auch noch nicht, dass ein ganz bestimmter Geruch wie von verbrannten Hühnerknochen sie an diese Zeit erinnern wird. Fast 80 Jahre später weiß Hanan, dass Auschwitz sie immer wieder in ihren Alpträumen heimgesucht hat.

Ein halbes Jahrhundert lang hat Rachel Hanan geschwiegen und ihre Erlebnisse weitgehend für sich behalten. In ihren am 18. Januar erschienenen Memoiren »Ich habe Wut und Hass besiegt« veröffentlichte sie die Geschichte ihrer Gefühle erstmals in Buchform. »In der Vergangenheit wollte ich mich auf die positiven Gefühle in meinem Leben fokussieren, das war wichtig, um mich zu heilen und zu entwickeln und um das zu erreichen, was ich erreichen wollte«, sagt sie in Retrospektive. Nicht einmal mit ihrem Mann hatte sie darüber gesprochen, auch wenn er sie Nacht für Nacht in den Armen hielt, wenn sie im Schlaf schrie.

»Es war schwer, für das Buch so tief zu gehen. Sogar schwerer, als wenn man als Teil einer Delegation zurück nach Auschwitz reist«, sagt sie im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. »Während der Arbeit am Buch habe ich über Wochen tief in meinen Gefühlen gegraben, es war psychische und körperliche Anstrengung und dementsprechend nicht leicht.«

In erster Linie wurde ihre Geschichte für ihre eigenen Nachkommen und Freunde aufgeschrieben. Das Buch, das zunächst nur auf Deutsch erscheint, später auch ins Englische und Hebräische übersetzt werden soll, sei hier als Mahnung an junge Menschen gerichtet. »Nirgendwo auf der Welt sollen solche oder ähnliche schreckliche Dinge jemals wieder geschehen.«

Die mittlerweile 93 Jahre alte Rachel Hanan kommt ursprünglich aus dem heute rumänischen Unterwischau. Damals war die Region von Ungarn besetzt - einem Verbündeten der Nationalsozialisten. In ihrem Buch beschreibt sie die Tage vor der Deportation - und wie unbekümmert sie noch war. Sie erzählt von ihrer in Auschwitz stressbedingt ausgefallenen Menstruation und der Angst, niemals Kinder bekommen zu können.

Sie erzählt auch, wie sie sich beim Todesmarsch ins Konzentrationslager Theresienstadt - bloß noch ein Skelett und 25 Kilogramm leicht - an ein Stück Brot klammerte und es ihre letzte Hoffnung war. Bis heute wirft sie niemals Brot weg, auch wenn sie Jahrzehnte später und Tausende Kilometer entfernt in der nordisraelischen Stadt Haifa lebt.

Der jüdische Staat habe der langjährigen Sozialarbeiterin bei der Heilung geholfen. »Dass das jüdische Leben zurückkommt, ist das Allerwichtigste. Ich freue mich seit meinem ersten Tag in Israel über jeden Erfolg, jedes Gebäude, das gebaut wird, und über jeden Baum, der auf dem Land wächst, über Kinder, die im Kindergarten spielen und nicht gewaltsam in Vernichtungslager gebracht werden. Auch wenn ich manches kritisch sehe, was in meinem Land geschieht, bin ich sehr froh darüber, dass meine Kinder hier in Israel leben, und nicht irgendwo anders in der Welt.«

Trotz allem ist sie in der Vergangenheit immer wieder nach Auschwitz zurückgekehrt, um jungen Menschen nahezubringen, was sie in dem Vernichtungslager erlebt hat. Ihre Memoiren sollen diese Arbeit weiterführen, wenn sie irgendwann nicht mehr ist. Ihre Hoffnung für die Gegenwart und Zukunft ist, dass jedermann sich wie »a mentsch« verhält. So bezeichnet man im Jiddischen jemanden, der voller Integrität und Ehre ist.

Im Penguin Verlag sind am Mittwoch außerdem die Memoiren der Holocaust-Überlebenden Tova Friedman erschienen. Sie war als Vierjährige nach Auschwitz deportiert worden und wurde mit sechseinhalb Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter befreit. Heute ist sie gemeinsam mit ihrem Enkel auf Tiktok unterwegs - dort klären sie über die Gräuel des Holocausts auf. Die beiden Bücher erscheinen zeitlich sehr nah an einem wichtigen Gedenktag - dem 27. Januar, als Auschwitz von der sowjetischen Armee befreit wurde.

Hanan, Rachel: »Ich habe Wut und Hass besiegt - Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat«, ISBN: 978-3-453-21841-3, Erscheinungsdatum 18. Januar 2023, 288 Seiten, Hardcover, 20,00 Euro.

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  11.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025