Redezeit

»Es war lange kein Thema«

Herr Wilhelm, viele wertvolle Instrumente, die während der Schoa geraubt wurden, gelangten nach dem Krieg in den Handel, statt an ihre Besitzer oder deren Nachfahren zurückgegeben zu werden. Ihre Geschichten sind bis heute überwiegend unbekannt. Warum?
Es wäre wünschenswert, dass beim Verkauf eines Instruments die Informationen zur Vorgeschichte an den neuen Besitzer weitergegeben werden. Aber jemand, der ein Instrument unrechtmäßig erworben hat, spricht darüber natürlich nicht. Auch wenn der neue Besitzer die dunkle Vergangenheit eines Instrumentes erahnen mag, empfindet er sie als eine Art Makel und wird seine Bedenken für sich behalten. Aus diesem Grund sind viele Instrumente lange zurückgehalten worden und kamen erst spät in den Handel.

Geschah so etwas häufiger?
Mir wurden mehrere solcher Geschichten erzählt. Aber bereits kurz nach dem Krieg kamen viele Instrumente in den Handel. Oft brachten Privatleute schöne Instrumente ohne genauere Vorstellungen über deren Wert zu Händlern, die diese gerne und günstig ankauften. Ich gehe davon aus, dass die Bestände der Nazidepots über ein Netz von Händlern wieder in den Markt geschleust wurden.

In der Kunst scheint die Aufarbeitung einfacher zu sein. Immer wieder machen Nachrichten die Runde, dass Bilder an die Nachfahren und Erben der ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden. Warum ist das bei Instrumenten so schwierig?
Gemälde, die einen größeren Wert darstellen, sind in der Regel gut dokumentiert. Dies war aber bei nur wenigen Instrumenten in der Vorkriegszeit der Fall, sodass Geschädigte nach dem Krieg kaum eine Chance hatten, ihren Besitzanspruch geltend zu machen. Es sind auch nur ganz wenige Restitutionsfälle bekannt. Im Geigenbau war es beispielsweise lange kein Thema, dass sich Tausende von ehemals geraubten Instrumenten im Handel befinden müssen. Hier gab es eine Lücke in der Wahrnehmung. Das Thema geriet aber zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Wir sind jedoch mittlerweile sehr spät dran – und es wird schwierig werden, die Geschichten zu rekonstruieren.

Wer war während der Nazizeit die zentrale Figur, wenn es um den Raub von Instrumenten ging?
Da muss man an erster Stelle Alfred Rosenberg erwähnen, der für die Konfiszierung von Kulturgut in den eroberten Ländern den ideologischen Überbau geliefert hat. Rosenberg schien an seine Mission geglaubt zu haben. Bei der Lektüre seiner kürzlich aufgetauchten Tagebücher fand ich keinen Hinweis, dass er sein Tun je hinterfragt hätte. Ihm unterstellt war seit 1940 der »Sonderstab Musik«, der den Raub von Instrumenten organisierte.

Welche Regionen waren besonders betroffen?
Zunächst Frankreich. Paris war sicherlich die ergiebigste Quelle. Aber auch Holland und Belgien wurden systematisch bestohlen. Ab 1942 war der »Sonderstab Musik« in den baltischen Staaten tätig. Überall, wo Kultur stattfand und Wohlstand herrschte, waren auch die schönsten Instrumente zu finden.

Ist das dokumentiert?
Ja, durchaus. In einer erhaltenen Akte lautet beispielsweise eine Notiz von 1942: »Pro Monat fallen ca. 200 Klaviere und Flügel aus Frankreich an. Besonders wertvolle Geigen sind direkt nach Berlin zu schicken.« Im Februar desselben Jahres wurde vermerkt, dass in Amsterdam 436 Instrumente listenmäßig aufgenommen wurden, und im Juli 1944 hielt man fest: »Paris. Versand von zwei Waggons mit Musikinstrumenten«.

Experten schätzen, dass mehr als 600.000 Kunstwerke von den Deutschen in der Zeit von 1933 bis 1945 gestohlen wurden. Wie viele Instrumente sind geraubt worden?
Ein Rechnungsvorschlag: Man geht von der Größe der jüdischen Gesellschaft aus, schätzt ab, wie viel Prozent damals ein Instrument spielten, bedenkt, dass einige rechtzeitig ausreisen konnten, und stellt in Rechnung, dass viele Instrumente vor und während der Ausreise mit Steuertricks abgepresst wurden. Es muss sich um Zigtausende gehandelt haben. Allein im Prager Depot war die Zählung im Februar 1944 bei 20.301 Objekten angelangt.

Wohin wurden die Instrumente transportiert?
Die Alliierten entdeckten 1500 Depots von Kulturgütern. Bei meinen Recherchen bin ich immer wieder auf das Prager Depot gestoßen. Es wurde nach dem Krieg aufgelöst. Ein Teil der Instrumente kam dann in die Schweiz.

Warum?
Weil hier sowohl Kapital als auch ein Kulturleben vorhanden war. Die Schweiz war Drehscheibe und Absatzmarkt. Instrumente gelangten in viele verschiedene Länder, auch nach Russland. Es gibt wohl kaum einen Krieg, in dem Plünderungen keine Rolle spielen. Menschen verhalten sich in Extremsituationen anders als im Alltag. Ich weiß nicht, wie ich als Soldat mit der Versuchung umgegangen wäre, mir eine schöne Geige aus einem Depot unter den Nagel zu reißen – wahrscheinlich hätte ich auch zugegriffen.

Die Ausstellung »Raub und Restitution« im Berliner Jüdischen Museum vor sechs Jahren veränderte Ihr Leben. Seitdem fragen Sie sich, ob die älteren Instrumente, die durch ihre Geigenbau-Werkstatt gehen, eine besondere Geschichte haben. Welche Art der Aufarbeitung wünschen Sie sich?
Ich wünsche mir, dass der Raub an diesen Kulturgütern und die Art, wie sie später in den Handel kamen, als Skandal wahrgenommen werden. Für das genauere Verständnis ist noch viel Archivarbeit zu leisten, an der sich Historiker und Geigenbauverbände beteiligen sollten. Allerdings scheint mir auf deren Seite das Bedürfnis nach Aufarbeitung nicht gerade vordringlich. Dennoch ist nach der Entdeckung der Sammlung Gurlitt etwas in Bewegung gekommen. Ich wünsche mir auch eine spezielle Internet-Datenbank sowie die Erstellung einer »Galerie der geraubten Instrumente«, als Erinnerung an den Raub und die nachfolgende Hehlerei, die von der Musikwelt so lange ausgeblendet wurde.

Mit dem Geigenbauer sprach Christine Schmitt.

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