Wissenschaftstreffen

Es geht weiter

Noch Anfang März hieß es: Aus 101 Ländern werden 660 junge Wissenschaftler zum 70. Jubiläum der Nobelpreisträgertagungen in Lindau an den Bodensee reisen. Jahr für Jahr ist das eine Auszeichnung. Man wird extra dafür ausgewählt.

Lorenz Adlung wäre in diesem Jahr auch dabei gewesen. Der 30-jährige Deutsche forscht derzeit am Weizmann-Institut im israelischen Rehovot. Seit 2017 ist er dort zu Gast und widmet sich den Fragen rund um das Gebiet der »in uns lebenden Darmbakterien«.

SYSTEMBIOLOGIE Ihn interessieren Biologie und Mathematik. Sein Wissen bündelt er jetzt als Systembiologe, zuvor hat er am Deutschen Krebsforschungszentrum gearbeitet und an der Universität in Heidelberg studiert.

Auf das Treffen in Lindau hatte auch er sich gefreut, wo er Teil eines siebenköpfigen israelischen Naturwissenschaftler-Teams hätte sein sollen. Doch das fällt nun ins Wasser. Die Corona-Krise habe auch in seinem Forscheralltag einige Fragen ausgelöst, und Covid-19 sei nicht nur intern auf dem Campus ein Thema.

Ganz Israel stand im April fast unter Schock. »Doch es wäre auch schade, wenn ich und andere Spezialisten jetzt nur auf diesem Gebiet verstärkt forschen würden«, meint er. »Wir müssen unsere eigenen wichtigen Fragen weiterhin konzentriert bearbeiten. Vielleicht brauchen wir demnächst schon Spezialisten für resistente Darmbakterien? Was dann?«

BILDUNG Lorenz Adlungs Weg in die Wissenschaft ist ein sehr ungewöhnlicher. Er komme aus keiner Akademikerfamilie, erzählt er in einem öffentlichen Gespräch, und sei gerade deshalb dankbar, bodenständig geblieben zu sein. Dankbar sei er auch dafür, dass es immer wieder Menschen gab, die ihn förderten, durch den Bildungsdschungel lotsten und ihm geholfen haben, wenn Entscheidungen zu treffen waren.

»Auch jetzt in Israel ist das so: Wir sind – als Forscherteam hier – fast wie eine große Familie.« Es sei eine andere Art des Lebens im Turm der Wissenschaft, erzählt er und meint: flache Hierarchien, beeindruckend viele Start-ups, eine gute Verbindung zwischen Praxis – also den Krankenhäusern – und der Wissenschaft.

Und noch etwas begeistert ihn: Wer scheitert, zum Beispiel nach der Gründung eines Start-ups, würde nicht mit dem ultimativen Karriereknick bestraft und für sein Versagen gebrandmarkt, sondern bekomme immer eine neue Chance. »Man lernt aus den Fehlern und startet einfach neu; das ist eher normal und keine Katas­trophe.«

Ihn beeindrucke auch, erzählte er im Livestream auf der Bühne eines Science-Talks, die große Zahl der israelischen Nobelpreisträger. Zu den zwölf Personen gehören Aaron Ciechanover und Avram Hershko – beide erhielten 2004 den Nobelpreis für Chemie –, Dan Shechtman, ebenfalls Nobelpreis für Chemie 2011, und Ada Yonath, die 2009 den Chemie-Nobelpreis erhielt.

»Macht nicht das, was euch andere raten, folgt eurem eigenen Weg!«
Zellforscherin Ada Yonath

Auch Ada Yonath wäre in diesem Jahr wieder in Lindau zu Gast gewesen – wie schon 2019. Im vergangenen Jahr gehörte sie zur Gruppe der knapp 40 internationalen Nobelpreisträger, die Vorträge hielten, an Podien teilnahmen und vor allem an den kleinen, feinen, fast privaten Runden und gemeinsamen Essen mit den Nachwuchswissenschaftlern.

ELFENBEINTURM Genau das macht die Atmosphäre in Lindau aus: die Nähe zu den interessanten, klugen Köpfen aus der Welt der Wissenschaft, die zum Interview vor Ort auch schon einmal in Cordhose auf dem Fahrrad daherkommen.

Es geht nicht um Eitelkeiten. Es geht darum, die Welt – und nicht nur die Welt der Wissenschaft – nach vorne zu bringen, kritische Gedanken zu entwickeln. Um die Frage nach dem Ethos der Wissenschaft und der Verantwortung der Wissenschaftler geht es auch. Keineswegs will jeder – wenn auch Forschungsgelder verlockend sind – im Elfenbeinturm das Wissen für sich allein behalten. Auch Covid-19 dürfte eine Aussage bestätigen: Forschung muss international vernetzt und vor allem stark sein.

Ada Yonath sieht das ebenso. Bereits neunmal war sie in Lindau zu Gast und erzählte im vergangenen Jahr von ihrer Karriere. Gleich im ersten Moment des Gesprächs wird klar: Klischees will sie nicht bedienen, und allgemeine Fragen mag sie auch nicht. Dabei liegt es auf der Hand zu fragen, wie es für sie war, als erste Frau nach Marie Curie auf dem Gebiet diese Auszeichnung entgegenzunehmen und warum sie sich die Erforschung der Ribosomen als Lebensaufgabe ausgesucht hat.

Ada Yonath war elf Jahre alt, als ihr Vater starb. Sie half der Mutter im Laden und gab Nachhilfe. Als erste Frau in Israel erhielt sie später den Nobelpreis.

Die Tochter eines Rabbiners wurde 1939 in Jerusalem als Ada Lifshitz geboren. Ihre Eltern Hillel und Esther waren einst aus Polen nach Palästina emigriert. Der Großvater, ein berühmter Rabbiner, lebte damals in Galizien. Sein Grab, erzählt sie, könne man heute noch sehen. Durch Zufall und mit viel Glück sei es nicht zerstört worden. Ihr Vater Hillel gehörte damals zu den glühenden Verehrern der zionistischen Idee und hatte ein Ziel: ein Leben in Palästina aufzubauen.

Doch es muss schwierig gewesen sein. Das wird klar, wenn Ada Yonath aus ihrer Kindheit erzählt. Die Mutter war Hausfrau, nähte, kochte und versorgte die Familie. Der Vater eröffnete irgendwann einen kleinen Lebensmittelladen, um der Familie den Lebensunterhalt zu sichern.

LADEN Ada Yonath war gerade elf Jahre alt, ihre Schwester zwei, als der Vater starb. »Meine Mutter beherrschte zwar vier Sprachen – Englisch, Deutsch, Hebräisch und Polnisch –, aber keine Mathematik.« Also half Ada der Mutter. Denn der Laden musste weitergeführt werden.

»Können Sie sich vorstellen, wie das für ein elfjähriges Kind ist? Vielleicht ist es auch ein Grund, warum ich gut rechnen lernen musste«, sagt Ada Yonath. Die Familie zog nach Tel Aviv, auch um Ada eine bessere Bildung zu ermöglichen. Das Lernen hatten ihre Eltern immer gefördert, obwohl man zuvor in einem ultraorthodox geprägten Umfeld lebte und hohes Schulgeld nicht bezahlen konnte.

Außer zu Corona forschen die Wissenschaftler weiter zu anderen Themen. Denn vielleicht braucht man demnächst schon Spezialisten für resistente Darmbakterien.

Ada Yonath lernte nicht nur rechnen, sondern entdeckte in Tel Aviv auch ihre Liebe zu Naturwissenschaften. Später besuchte sie eine gute Schule und gab Nachhilfe, um die Ausbildung finanzieren zu können. »Ich respektiere Wissen«, sagt sie mit tiefem Ernst in der Stimme.

Heute ist sie die erste Frau Israels mit einem Nobelpreis, den sie sich seit 2009 mit den beiden Zellforschern Venkatraman Ramakrishnan (UK) und Thomas A. Steitz (USA) teilt. Das Spezialgebiet der drei: Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Ribosomen.

RIBOSOMEN Den feinen Molekülkomplexen der Zellen widmete Ada Yonath Jahrzehnte ihrer Forschung. Sie kristallisierte Strukturen, wie es vor ihr noch niemand getan hatte, erklärte und übersetzte diese Arbeit für die Medizin. Ribosomen sind dafür zuständig, Proteine aus den einzelnen Aminosäuren zusammenzubauen. Sie sind gewissermaßen die Eiweißfabrik der Zellen. Eiweißmoleküle sorgen dafür, dass Nahrung aufgespalten wird. Sie dienen als Botenstoffe, sind für Haut und Haare und für neue Muskulatur verantwortlich.

»Ich habe nie entschieden, Wissenschaftlerin zu werden – das hat sich einfach so ergeben«, sagt sie bescheiden. »Aber ich war schon immer sehr neugierig, schon als Kind: Ich wollte alles verstehen, selbst die Frage, warum der Wind aus der einen und nicht aus der anderen Richtung kam.«

Eigentlich habe sie früher Schriftstellerin werden und Bücher schreiben wollen, sagt sie. »Aber das hat nicht funktioniert«, erklärt sie mit einem Lachen. Seit 1968 ist sie promovierte Biochemikerin und forschte ebenfalls am Weizmann-Institut in Rehovot – so wie nun ihr jüngerer Kollege Lorenz Adlung.

»Vom Scheitern lernt man – zum Beispiel den Mut, Dinge anders zu betrachten.«
Systembiologe Lorenz Adlung

»Ich liebe es zu experimentieren, um mehr zu verstehen. Das war schon immer so. Und ich habe es als mein Hobby betrachtet, nie als einen Job. Ich hätte nicht gedacht, dass mich irgendwann jemand für ein Hobby bezahlt«, sagt Ada Yonath. Zwar benötigt sie mittlerweile mit über 81 Jahren einen Gehstock, doch sie sei aktiv, sagt sie, und vor der Corona-Krise um die Welt gereist, hielt Vorträge. Und Lindau stand jedes Jahr als fester Termin im Kalender.

VIRTUELL In diesem Jahr ist nun alles anders. Die 70. Jubiläumsausgabe der Tagungen mit den Nobelpreisträgern und den ausgewählten jungen Wissenschaftlern findet zum Teil im Internet statt. Das reale Treffen wird auf 2021 verschoben. Ebenso die Tagung der Wirtschaftswissenschaften.
Es gelte jetzt, meint Wolfgang Haaß, zuständig für die Kommunikation der Tagungen, »das Beste aus allem zu machen«.

Es sei schon ein Schock gewesen, das renommierte Wissenschaftlertreffen in den virtuellen Raum verlegen zu müssen. Jetzt würde man eben das 70. Jubiläum der Nobelpreis-Tagungen auf 2021 verlegen. Von Absage möchte man nicht sprechen, denn es wird in diesem Juni eine Alternative im Netz geben. Die Community wird sich nun – quer durch Kontinente und Zeitzonen – im Internet treffen.

»Es geht also weiter«, sagt Haaß und freut sich auf Diskussionen und Plattformen im Netz. Vielleicht entsteht auf diese Art sogar eine noch intensivere Zusammenarbeit zwischen Nobelpreisträgern, jungen Wissenschaftlern und den vielen Alumni. Denn alle Wissenschaftler weltweit seien indirekt oder direkt von den Fragen rund um Corona betroffen.

Es gebe viel zu erklären, meint auch der promovierte Systembiologe Lorenz Adlung, der 30-jährige Thüringer, der sich aus Rehovot einklinken möchte in die virtuellen Konferenz- und Diskussionsräume. Er freut sich auf den Austausch und ist sehr gespannt, was sich Neues aus dieser Chance ergeben könnte.

Science-Slams, Bühnen-Talks, Wissenschaftskommunikation auf Podien – auch Lorenz Adlung hat darin Erfahrungen gesammelt.

Die Wissenschaft hat sich verändert. Ebenso die Kommunikation über Wissenschaft und aus der Wissenschaft heraus. Science-Slams, Bühnen-Talks, Wissenschaftskommunikation auf Podien – auch Lorenz Adlung hat darin Erfahrungen gesammelt.

Mit seinen Programmen stand er unter anderem in Berlin und Hamburg vor wissenschaftsaffinem jungen Publikum, um über Krebsforschung, gute und böse Zellen sowie über resistente Darmbakterien zu erzählen, seine Fakten und Meinungen zu rappen und klarzumachen: »Ich halte die Wissenschaftskommunikation für etwas ganz Wesentliches.« Das sagt er auch per Video-Interview aus dem fernen Israel. »Wer Wissen hat, sollte es erklären können, und wer Wissen schafft, hat die Verantwortung, dieses weiterzugeben.«

FEHLER Aus seiner Sicht ist es gar nicht so dramatisch, über Fehler in der Wissenschaft zu sprechen, über Fehlerquellen in der Forschung, über das, was schiefgegangen ist und warum. »Vom Scheitern kann man genauso lernen – nämlich Mut, die Dinge anders zu betrachten, Risiken ernst zu nehmen, die kleinsten Variablen nicht zu vergessen«, meint Lorenz Adlung.

Wenn er und sein Team heute forschen, sei es sowieso ein anderes Klima als noch vor 20 oder 30 Jahren. Es sei auch völlig selbstverständlich, dass es viele Kolleginnen in seinem Forschungsbereich gibt und Männer wie Frauen pünktlich die Arbeit verlassen, um am Nachmittag die Kinder abzuholen.

Ada Yonath hat in ihrem Leben den Zusammenhang der Wirkungsmechanismen von etwa 20 Antibiotika entschlüsselt.

Ada Yonath hat in ihrem Leben den Zusammenhang der Wirkungsmechanismen von etwa 20 Antibiotika entschlüsselt und dürfte es als Frau in der Forschung nicht überall leicht gehabt haben. Oder doch? Wie reflektiert sie diese Hürden?

»Ach wissen Sie, ob Mann oder Frau – ich habe mir einfach so ein schwieriges Gebiet ausgesucht. Das wollte irgendwie kein anderer machen«, sagt sie. Und wieder folgen ein mildes Lächeln und der Rat, den sie nachfolgenden Generationen gibt: »Macht nicht das, was euch andere raten. Sucht den eigenen Weg. Folgt dem, was euch wirklich interessiert!«

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