Maria Stepanova

Eisige Jamben

Scharfe Kritikerin Putins: Maria Stepanova Foto: Chris Hartung

Maria Stepanova

Eisige Jamben

Die Leipziger Buchmesse ehrt die russische Lyrikerin – in »Winterpoem 20/21« beschreibt sie Isolation und Pandemie

von Frank Olbert  26.04.2023 17:33 Uhr

Den langen ersten Winter der Corona-Pandemie erlebte Maria Stepanova – wie der überwältigende Teil der Menschheit – als Ausnahmezustand, als Insel im normalen Fluss der Zeit, auf der plötzlich die vertrauten Gesprächspartner fehlten. Warum also nicht auf die Suche gehen nach den inneren Stimmen?

Und tatsächlich gleicht Stepanovas neues, in der Zeit der pandemischen Isolation entstandenes Buch Winterpoem 20/21 einem Gespräch mit allerhand Figuren, die der Autorin im Kopf herumspukten – angefangen bei Ovid, dessen Exilerfahrung sie auf die eigene Situation überträgt, bis hin zum Expeditionsbericht eines Seemanns, der auf Nowaja Semlja strandet.

Es ist bitterkalt, sogar die Worte gefrieren im Frost, sodass sie nicht mehr ans Ohr des Gegenübers dringen – erst bei Tauwetter, so spinnt Stepanova dieses wunderbare Gleichnis im Laufe des Winterpoems fort, befreien sie sich aus der Erstarrung und werden alle gleichzeitig hörbar. Das Poem hebt an zum Stimmenkonzert.

EXIL Die russisch-jüdische Lyrikerin Maria Stepanova zählt zu den bedeutendsten Autorinnen der russischen Gegenwartsliteratur. Das Exil, das sie im Winterpoem noch als Rückzug ins eigene Innere beschreibt, hat in der Zwischenzeit eine klare politische Bedeutung erlangt: Als Fellow des Wissenschaftskollegs lebt und arbeitet sie derzeit in Berlin. Vor allem aber ist sie – die Putins Herrschaft bereits seit geraumer Zeit anprangert – eine scharfe Kritikerin des russischen Einmarschs in der Ukraine.

»Der russische Staat versetzt uns tief in archaische Zeiten zurück«, sagte sie jüngst in einem Interview mit dieser Zeitung. Auf der Leipziger Buchmesse wird Stepanova nun mit dem Buchpreis für Europäische Verständigung geehrt.

Ihr Winterpoem dokumentiert die Ruhe vor dem Sturm – eine Zeit der erzwungenen, in einem existenzialistischen Sinne erfahrenen Zurückgeworfenheit auf das eigene Selbst, in der sich die Vorahnung auf das Kommende, auf den Krieg, allerdings schon unheilvoll aufstaut. Die Unruhe betrifft sogar die eigene Zunft, wenn sie den Verfassern eitler Besinnungslyrik »eisige Jamben« entgegenschleudern will.

Eis und Schnee, Kälte und Frost, das sind Stepanovas Leitmetaphern im Winter­poem. Selbst der Wein ist gefroren, er steht ohne Krug auf dem Tisch, man muss sich ein Stück herausbrechen. So kantig und rau geht es mitunter zu in diesen Gedichten, die sich im Grunde zu einem einzigen Langgedicht fügen, das Prosapassagen ebenso umfasst wie in der deutschen, schlichtweg bestechend souveränen Übertragung durch Olga Radetzkaja einige Originalpassagen in kyrillischer Schrift.

Im Übergang vom Pandemie-Winter zum Frühling schlägt die Autorin freilich immer wieder zarte, hoffnungsvolle Melodien an, so wie sich das Winterpoem überhaupt zu einem Geflecht entfaltet, in dem sich Stepanovas eigene Beobachtungen mit denen ihrer inneren Gesprächspartner verbinden – mit Kenneth Rexroths Übersetzungen klassischer chinesischer Dichter, mit Hans Christian Andersen oder E.T.A. Hoffmann.

Traumfiguren Unversehens taucht etwa Marie Stahlbaum auf, die romantische Heldin aus Nussknacker und Mausekönig, oder Tatjana Larina, die Liebende aus Alexander Puschkins Eugen Onegin. Es sind Traumfiguren im allgegenwärtigen Schnee, der nicht allein die Landschaft verbirgt, sondern die Zukunft: Beschert sie nach langer Isolation das Fest der Wiederbegegnung, oder kommt der Krieg samt Gulag, Vertreibung und Tod?

Wohl selten bringt ein Gedicht den Zustand unserer Gegenwart in gleichermaßen mehrdeutige wie präzise Bilder. Es ist in diesem Sinne ebenso zerbrechlich wie schonungslos aktuell.

Maria Stepanova: »Winterpoem 20/21«. Suhrkamp, Berlin 2023, 119 S., 22 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025