Literatur

»Eine wichtige Debatte«

Takis Würger, Schriftsteller und »Spiegel«-Reporter Foto: Sven Döring / Agentur Focus

Von Daniel Kehlmann stammt der Satz, dass ein Roman besonders gut sein müsse, wenn er den Holocaust zum Gegenstand hat. Dies sei eine literarische, aber mehr noch eine moralische Verpflichtung eines jeden Autors. Takis Würger wird diesem Anspruch in seinem neuen Roman Stella gerecht. Leise, glaubwürdig und ja, auch schonungslos, aber an keiner Stelle unempathisch, effekthascherisch oder gar reißerisch erzählt der Schriftsteller und »Spiegel«-Reporter die Geschichte der jüdischen »Greiferin« Stella Goldschlag, der Unfassbares angetan wurde und die dann anderen Menschen selbst Unfassbares angetan hat.

Umso mehr verwundert es, dass noch vor Veröffentlichung des Buches vergangene Woche eine Debatte über den Roman entbrannte, wie es sie in dieser Intensität nur selten in der deutschsprachigen Literatur gibt. Der Vorwurf: Takis Würger, der nichtjüdische Schriftsteller, instrumentalisiere den Holocaust für seine »kitschige Nazi-Schnurre mit Fertigfiguren« (Deutschlandfunk). »Schuldig, jeder auf seine Art«, befand die »Zeit«. Und die »Süddeutsche Zeitung« urteilte: »Ein Ärgernis.« Das Buch sei das Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint.

Im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen nimmt Takis Würger erstmals ausführlich Stellung zu den Vorwürfen. Er spricht über eigene Bedenken, seine Recherchen zu dem Buch und warum er sich gerade diese Geschichte für seinen zweiten Roman ausgesucht hat.

Herr Würger, was antworten Sie Ihren Kritikern?
Ich glaube, es ist nicht die Aufgabe eines Schriftstellers, seinen Kritikern zu antworten. Mein Roman erzählt eine tragische Liebesgeschichte während der NS-Zeit. Damals konnte man seine Meinung nicht frei sagen. Heute geht das zum Glück. Das schließt mit ein, dass Leser einen Roman kritisieren.

Ihnen wird vorgeworfen, dem Thema nicht gewachsen zu sein und die Schoa für eine Kitsch-Geschichte zu instrumentalisieren. Können Sie mit dieser Kritik etwas anfangen?
Das ist ein harter Vorwurf. Hat Bernhard Schlink die Schoa instrumentalisiert, als er den Vorleser schrieb? Oder Julia Franck? Oder Robert Seethaler? Der Vorwurf trifft mich sehr, weil mir nichts ferner liegt als das. Es trifft mich aber auch, weil es für die Vorwürfe meines Erachtens inhaltlich keine Grundlage gibt.

Gibt es trotzdem Stellen, die Sie so nicht noch einmal schreiben würden?
Nein.

Sie hatten keine Bedenken, diese Geschichte zu erzählen?
Doch, natürlich. Ich habe mich gefragt, ob ich diese Frau als einen Menschen zeigen darf, der geliebt wird. Eine Frau, die lacht, singt, Champagner trinkt. Es ist mir schwergefallen, aber ich glaube, Literatur darf das. Ich hoffe es. Und neben einigen Verrissen im Feuilleton kommen ja auch positive Rückmeldungen. Sowohl von anderen Kritikern und Schriftstellern als auch von Lesern und dem Buchhandel. Ich erhalte viele anrührende Nachrichten in diesen Tagen, von Menschen, die Stella mit Gewinn gelesen haben. Und die ebenfalls bewegt sind von dieser Geschichte und diesem Kapitel der NS-Zeit.

Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen?
In dem Moment, in dem man einen Roman veröffentlicht, gehört er nicht mehr dem Autor. Das Buch entwickelt sein Eigenleben. Letztlich fällt jeder Leser sein eigenes Urteil über das Buch.

Hat Sie die Heftigkeit der Debatte überrascht?
Ja. Aber ich glaube, die Debatte ist wichtig. Wenn mein Roman Stella dazu führt, dass ein paar mehr Menschen in unserem Land über den Terror der Nazis nachdenken, finde ich das gut.

Gibt es Rückmeldungen zum Buch aus der jüdischen Gemeinschaft?
Ja, jüdische Kollegen und Freunde sagen mir, das müsse ich jetzt aushalten, und stehen mir bei.

Auch Daniel Kehlmann hat den Roman verteidigt. Er schrieb, dass es dem Buch eben doch gelinge, vom eigentlich Unerzählbaren zu erzählen ...
... das ist für mich ein dickes Schild in diesen Tagen. Daniel Kehlmann ist ein Vorbild und der wichtigste Schriftsteller für mich. Ich vertraue auf seine Meinung.

Ihr erster Roman »Der Club« wurde auf Anhieb ein Bestseller. Darin ging es ums Erwachsenwerden, um Gewalt und die Abgehobenheit der sogenannten Oberschicht. Weshalb genau haben Sie sich jetzt für die Geschichte über Stella Goldschlag entschieden?
Stella Goldschlag fand sich mit Anfang 20 in einer Zwangslage wieder, die in ihrer Gewalt und moralischen Komplexität unerträglich ist. Ihr Leben wirft bei mir mehr Fragen auf, als dass ich darin Antworten finde. Ich finde, das war ein geeigneter Startpunkt für einen Roman.

1943 wurde Stella verhaftet. Wie kam es dazu, dass die Nazis Goldschlag als »Greiferin« einsetzten?
Die Deutschen sagten zu ihr bei der Verhaftung: Du hast zwei Möglichkeiten: 1. Wir stecken deine Eltern in einen Zug nach Auschwitz. 2. Du arbeitest für die Gestapo, wir verschonen deine Eltern, und als Gegenleistung jagst du jüdische Berliner.

Ist es überliefert, ob sie erwog, das »Angebot« abzulehnen?
Nach allem, was man weiß, scheint sie nicht gezögert zu haben.

Wie ging sie bei dem, was sie tat, vor?
Stella Goldschlag war in Berlin aufgewachsen und kannte viele andere Berliner Juden. Die Deutschen sagten zu ihr, du kennst viele jüdische Berliner, spür sie für uns auf, wir verhaften sie dann. Stella jagte Menschen in Cafés, in der Oper, auf offener Straße und ließ sie verhaften.

Gab es beim Schreiben einen Punkt, an dem Sie so etwas wie Verständnis für sie entwickelt haben?
Nein. Vielleicht liest sich der Roman an manchen Stellen so, weil ich Goldschlags Geschichte aus der Perspektive eines Mannes erzähle, der sich in sie verliebt. Aber als Autor habe ich eine andere Position. Ich glaube, sie war schuldig. Ich glaube, sie hat falsch gehandelt, als sie mit den Nazis paktierte, die sie erst in diese grausame Situation gebracht hatten.

Wie haben Sie sich der historischen Stella Goldschlag als Schriftsteller genähert?
Das war die Herausforderung. Es gibt über sie relativ viel Material. Ein aufschlussreiches, leider vergriffenes Sachbuch von Peter Wyden, eine dicke Akte ihres Gerichtsprozesses im Landesarchiv Berlin, wo ich viel recherchiert habe, und eine Doku von Anfang der 90er-Jahre, in der sie als alte Frau vor der Kamera sitzt und sich für ihre Taten rechtfertigt.

Geben die Gerichtsakten darüber Auskunft, wie Goldschlags Zeitgenossen und wie Überlebende sie beschrieben?
Wenn man die Zeugenaussagen liest, wird klar, dass sie vor allem skrupellos und – nach allem, was bekannt ist – eiskalt in ihrer Arbeit für die Gestapo war.

Welche Vorteile erhielt sie im Gegenzug für ihre Tätigkeit?
Sie lebte. Eine Zeit lang konnte sie ihre Eltern retten. Sie durfte ohne Stern durch die Stadt laufen, und sie bekam von der Gestapo ein wenig Geld. Von anderen Greifern ist überliefert, dass sie sich an den Reichtümern der Menschen bedienten, die sie verrieten. Ob Stella das gemacht hat, weiß ich nicht.

Was geschah mit ihren Eltern?
Das Schicksal ihrer Eltern illustriert die Grausamkeit der Deutschen. Der Vater und die Mutter wurden in Auschwitz ermordet.

War Goldschlags Existenz als Greiferin ab 1943 in der jüdischen Gemeinschaft von Berlin bekannt?
Manche jüdische Berliner nannten sie »Das blonde Gift«. Viele kannten sie schon vor ihrer Arbeit für die Gestapo. Als sie zur Jägerin wurde, fürchteten die Menschen sie. Es gab mutmaßlich sogar geheime Pläne, sie zu ermorden, aber das ist niemals geglückt.

Wie ging es mit ihr nach dem Untergang des NS-Regimes weiter?
Sie versuchte, sich in Berlin nach dem Krieg als Opfer des Faschismus registrieren zu lassen. Jüdische Berliner erkannten sie und ließen sie verhaften. Stella wurde der Prozess gemacht. Ein Gericht verurteilte sie zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord. Nach ihrer Haft nahm sie einen neuen Namen an, zog nach Freiburg und lebte zurückgezogen. 1994 nahm sie sich das Leben.

Die Tochter von Stella Goldschlag wuchs in einer jüdischen Pflegefamilie auf. Was ist über das Verhältnis zu ihrer leiblichen Mutter bekannt?
Ihre Tochter Yvonne hat sich schon als Kind geweigert, Stella zu verzeihen oder so etwas wie ein normales Verhältnis zu ihr zu pflegen. Yvonne brach später den Kontakt gänzlich ab. Sie lebt heute in Israel. Nach allem, was bekannt ist, leidet sie noch immer darunter, dass ihre leibliche Mutter diese Frau war.

War Stella Goldschlag Täter oder Opfer – oder beides?
Ich glaube, das ist eine der Fragen, denen mein Roman nachspürt. Die Frage soll man sich beim Lesen stellen. Wenn ich an Stella Goldschlag denke, denke ich an ein Opfer, das tragischerweise zur Täterin wurde.

Mit dem Schriftsteller und »Spiegel«-Reporter sprach Philipp Peyman Engel.

Takis Würger: »Stella«. Hanser, München 2019, 224 S., 22 €

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