Roman

Eine Siedlung in der Pampa

Überflüssig und enttaüschend: der neue Roman von Eshkol Nevo Foto: dtv

Der Weg zu den Utopien, nimmt man gemeinhin an, ist von Begeisterung getragen und kurz – umso länger dagegen der steinige Rückweg in die Wirklichkeit. Im 65. Jahr nach der Staatsgründung Israels erscheint nun in deutscher Übersetzung ein neuer Roman des 1971 in Jerusalem geborenen Eshkol Nevo, der die Probe aufs gegenteilige Exempel zu machen scheint: Denn lang ist der Weg der beiden unfreiwilligen Aussteiger Dori und Inbar aus ihrem israelischen Alltag nach Südamerika, wo sie dann in Peru zufällig aufeinandertreffen und ab da gemeinsam reisen, um Doris lang vermissten Vater in Argentinien wiederzufinden: als organisatorisches und spirituelles Haupt »einer therapeutischen Community« namens Neuland.

Dori, zu Hause in Israel Geschichtslehrer und keineswegs unglücklich verheiratet, und die traumatischen Familienstrukturen entflohene Radiomoderatorin Inbar kommen sich ausgerechnet in dieser Konstellation emotional näher, doch kurz, zu kurz ist die Zeit: In Israel ist soeben der zweite Libanonkrieg vom Sommer 2006 ausgebrochen, und angesichts beinahe stündlich aus dem Südlibanon abgeschossener Hisbollah-Raketen treibt es die beiden schnellstens nach Buenos Aires, um mit dem nächsten Flugzeug nach Tel Aviv zurückzukehren.

Krieg Aus der erhofften Vater-Sohn-Versöhnung wird somit nichts, umso mehr der entrückt wirkende Senior genau jenen wabernden Esoterik-Sprech pflegt, der Ignoranz als Tiefe ausgibt: »Das überrascht mich nicht. Man muss immer ab und zu einen Krieg anzetteln, um davon abzulenken, dass es keine Vision gibt.« Derweilen wollen die übrigen Siedlungsmitglieder von Dori und Inbar vor allem wissen, wer in Israel gerade Fußballmeister und Pokalsieger geworden ist, denn in »Neuland« gibt es weder Fernsehen noch Mobiltelefone. Zwar informiert ein »Informationsblatt für Gäste« darüber, dass man hier keine homogene Utopie anstrebe, sondern eine »real existierende Community voller Widersprüche« sei, doch bleiben hier die Worte ebenso im Vagen wie die Charaktere der Beteiligten.

So weit, so fad. Eshkol Nevo, Enkel des legendären israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol und bislang zu Recht gerühmt als Verfasser packender Alltagsromane, welche die israelische Welt als Nussschale universeller Erfahrungen zeigen, überhebt sich hier freilich enorm. Einem Buch, das in Titel und Sujet auf nichts Geringeres anspielt als auf Theodor Herzls Generationen prägenden Roman Altneuland aus dem Jahre 1902 – eine Literatur gewordene Israel-Vision im Geist des demokratischen Zionismus – hätte man gewiss mehr stilistischen und thematischen Drive und Verknüpfungsenergie gewünscht.

Denn gibt es im gegenwärtigen Israel nicht Versuche, in städtischen Kibbuzim wie jenen der linken Organisation »Dror« die zionistische Idee der bereits allzu lang währenden Umklammerung durch die Rechtsnationalen zu entwinden? Und böte die faszinierende Welt Südamerikas nicht ebenfalls genügend Anreize, sich auf eine andere Art zu bewegen als im enervierend ruhigen Fluss eines naturalistischen Realismus, dessen Protagonisten vor allem mit sich selbst beschäftigt sind, ohne dass ihr eher mediokres Seelenleben uns wirklich für sie einnehmen würde?

»post-ideologisch« Wer nach Herzls verbliebenen Spuren sucht, wird in den israelischen Gegenwartsdebatten fündig, und wen die höchst ambivalente Binnenwelt kollektiver Projekte interessiert, kann in Arthur Koestlers sechs Jahrzehnte altem Kibbuz-Thriller Wie Diebe in der Nacht noch immer höchst spannungsreich schmökern. Vielleicht rächt es sich deshalb ja auch literarisch, dass weltweit und somit auch in Israel Eshkol Nevos Generation, von den Jüngeren gar nicht zu reden, sich derart entspannt »post-ideologisch« gibt, dass kaum noch historische Tiefenkenntnis vorhanden ist und das geistige Rüstzeug, sich adäquat mit Ideen auseinanderzusetzen, längst entsorgt wurde.

Und was schließlich die reale Präsenz der um die vorletzte Jahrhundertwende von Baron Hirsch gegründeten jüdischen Siedlungen in der argentinischen Pampa betrifft: Der noch heute hochbetagt in Buenos Aires lebende Schriftsteller Robert Schopflocher war einst dort als Verwalter tätig und hat diese Welt in berückenden Erzählstücken von Tschechowscher Prägnanz verewigt. Traurig deshalb, zu diesem Urteil zu kommen, doch wohl leider unabwendbar: Selten war ein Buch, trotz geschmeidiger Übersetzung, so derart überflüssig und enttäuschend wie Eshkol Nevos flauer Wälzer Neuland.

Eshkol Nevo: »Neuland«. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Dtv, München 2013, 638 Seiten, 24, 90 €

Eurovision Song Contest

CDU-Politiker: ESC-Boykott, wenn Israel nicht auftreten darf

Steffen Bilger fordert: Sollte Israel vom ESC ausgeschlossen werden, müsse auch Deutschland fernbleiben. Er warnt vor wachsenden kulturellen Boykottaufrufen gegen den jüdischen Staat

 18.09.2025

Ehrung

Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für Tamar Halperin

Die in Deutschland lebende israelische Pianistin ist eine von 25 Personen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 1. Oktober ehrt

von Imanuel Marcus  18.09.2025

Ausstellung

Liebermann-Villa zeigt Architektur-Fotografien jüdischer Landhäuser

Unter dem Titel »Vision und Illusion« werden ab Samstag Aufnahmen gezeigt, die im Rahmen des an der University of Oxford angesiedelten »Jewish Country Houses Project« entstanden sind

 18.09.2025

Debatte

Rafael Seligmann: Juden nicht wie »Exoten« behandeln

Mehr Normalität im Umgang miteinander - das wünscht sich Autor Rafael Seligmann für Juden und Nichtjuden in Deutschland. Mit Blick auf den Gaza-Krieg mahnt er, auch diplomatisch weiter nach einer Lösung zu suchen

 18.09.2025

Kino

Blick auf die Denkerin

50 Jahre nach Hannah Arendts Tod beleuchtet eine Doku das Leben der Philosophin

von Jens Balkenborg  18.09.2025

»Long Story Short«

Die Schwoopers

Lachen, weinen, glotzen: Die Serie von Raphael Bob-Waksberg ist ein unterhaltsamer Streaming-Marathon für alle, die nach den Feiertagen immer noch Lust auf jüdische Familie haben

von Katrin Richter  18.09.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. September bis zum 2. Oktober

 18.09.2025

Fußball

Mainz 05 und Ex-Spieler El Ghazi suchen gütliche Einigung

Das Arbeitsgericht Mainz hatte im vergangenen Juli die von Mainz 05 ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt

 18.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 18.09.2025