Interview

»Eine Heldin wider Willen«

»Es ist ihr Wunsch, dass ich ihr Erbe weitertrage«: Maya Lasker-Wallfisch (Jahrgang 1958) mit ihrer Mutter Anita Lasker-Wallfisch 2023 in Berlin Foto: IMAGO/Emmanuele Contini

Maya Lasker-Wallfisch, Ihre Mutter Anita Lasker-Wallfisch hat das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überlebt, weil sie dort im Orchester Cello spielte. An diesem Donnerstag, dem 17. Juli, wird sie 100 Jahre alt. Wie geht es ihr?
Sie ist sehr müde und im Moment nicht sehr glücklich. Es ist eine schwierige Zeit, alles ist ziemlich anstrengend.

Aus persönlichen Gründen oder wegen der politischen Situation auf der Welt?
Alles zusammen.

Diese Woche wird in der Wigmore Hall in London ein Konzert zu Ehren Ihrer Mutter gegeben, einer professionellen Musikerin und Zeitzeugin, mit ihren Enkeln, den Musikern Simon und Benjamin Wallfisch. Freut sie sich darauf? Werden Sie als Rednerin auftreten?
Ja, und ich hoffe, dass meine Mutter trotz ihrer Persönlichkeit in der Lage sein wird, die bevorstehenden Veranstaltungen zu genießen. Ich bin nicht sicher, ob dieses Konzert für meine Mama veranstaltet wird. Es ist für die Menschen, die sie bewundern. Und es gibt der Öffentlichkeit die vermutlich letzte Gelegenheit, sie zu feiern. Das ist fast wie mit einem lebenden Mahnmal. Meine eigene Erwartung ist einfach die, dass wir es überleben, dass sie es überlebt – und vielleicht auch etwas Freude daran hat. Das Konzert ist ausverkauft, weil die Leute ein so großes Interesse an ihr zeigen, aber sie ist eine Heldin wider Willen. Sehr widerwillig! Und noch etwas kann ich Ihnen erzählen: Der König von England plant, meine Mutter zu besuchen.

Der König kommt zum Konzert?
Nein, sie erwartet einen privaten Besuch des Königs. Sie mag auch (den Schauspieler und Regisseur) Stephen Fry sehr gerne. Er ist ein großartiger Freund. Ich bin sehr erfreut darüber, an diesem Tag seine Unterstützung zu haben. Ich habe ihr also die zwei Menschen organisiert, die zu ihren Lieblingspersonen gehören. Und danach musste ich bei eBay eine silberne Teekanne und ein Service erstehen. Ich kann dem König doch keinen Tee aus Tassen servieren, die nicht elegant sind!

Sie haben neulich gesagt, dass Hitler Ihre Mutter umbringen wollte – und dass sie jetzt elf Nachkommen hat: Kinder, Enkel und Urenkel. Fühlt sich das für Sie und Ihre Familie wie ein Sieg an?
Ja, ich würde zu ihr sagen: Du hast trotz allem triumphiert. Und du hast mehr als überlebt. Obwohl sie selbst es nicht unbedingt so sieht. Sie ist immer noch die Matriarchin einer wachsenden Familie, und auch das ist ein Wunder. Sie glaubt es zwar nicht wirklich, wegen des heutigen Zustands der Welt, aber sie hatte eine enorme Wirkung auf viele Menschen. Natürlich hat das nicht den Antisemitismus beseitigt, aber sie hat ihre Geschichte so vielen jungen Menschen in Schulen erzählt. Ich hoffe doch, dass man sie dafür immer im Gedächtnis behalten wird.

Sie und Ihre gesamte Familie. Auch für Sie als Tochter einer Überlebenden war das Leben nicht immer leicht. Spüren Sie diese Last auch in diesen Tagen?
Absolut. Und seitdem meine Mutter vor sechs Monaten einen schweren Unfall hatte, hat sich unser Leben sehr verändert, vor allem ihr eigenes natürlich. Sie bekommt jetzt Pflege rund um die Uhr. Die unabhängige Person von 99,5 Jahren – sie gibt es jetzt nicht mehr.

Ist das schwer für sie zu akzeptieren?
Sehr. Für uns alle.

Kommen bei ihr jetzt die Erinnerungen an die dunklen Zeiten ihres Lebens zurück?
Ich glaube, es sind unterschiedliche Arten von Erinnerungen. Auch Erinnerungen an ihre frühe Kindheit und an die Eltern, die während der Schoa ermordet wurden. Mir ist bewusst, dass ihr frühes Trauma in diesen vergangenen sechs Monaten wieder wach geworden ist.

Wie beeinflusst Sie das?
Es ist sehr traurig. Und es bringt mich auf den Gedanken, dass niemand darüber hinwegkommt. Wissen Sie, obwohl meine Mutter ein Leben geführt hat, in dem sie Dinge bewältigt hat, ein aktives Leben, und obwohl sie versucht hat, Gefühle aus ihrem Leben zu verbannen, hat es sie eingeholt. Und in diesem letzten Abschnitt des Lebens und mit ihrer plötzlichen Zerbrechlichkeit wird sie an Zeiten erinnert, als sie sehr verletzlich war.

Ihre Mutter wurde in Breslau geboren und lebt seit Langem in London. Sie sind inzwischen von dort nach Berlin gezogen, leben überwiegend hier, haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und arbeiten bis heute als Psychoanalytikerin.
Selbstverständlich. Aber ich würde auch gerne meine Expertise nutzen, um mehr Menschen zu erreichen, vor allem junge Leute, weil das notwendig ist. Ich sollte eigentlich jede Woche in einer Schule sein. Aber ich bin es nicht. Trotz meines Namens, trotz der Bücher, die ich geschrieben habe, trotz des Films »Der Schatten des Kommandanten« über unsere Familie und den Sohn und den Enkel von Rudolf Höß, des Kommandanten von Auschwitz. Es scheint alles nicht genug zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass Deutschland es nicht hören will. Ich würde mich sehr gerne irren.

Glauben Sie, dass Schüler oder Lehrer lieber Geschichten »aus erster Hand« von Überlebenden hören wollen, nicht von ihren Kindern?
Das ist eine große Sorge – denn meine Mutter ist die Letzte. Ich mache mir sehr reale Sorgen über fehlendes Engagement der zweiten Generation, und ich glaube, es gibt eine Art absoluten Wunsch, dass wir alle verschwinden. Ich habe eine große Verantwortung, und es ist der Wunsch meiner Mutter, dass ich ihr Erbe weitertrage. Das ist aber nicht so einfach, wenn ich nicht darum gebeten werde.

Haben Sie Angst, dass mit dem Aufstieg einer rechtsextremen Partei in Deutschland auch der Wille verschwindet, über die Vergangenheit zu sprechen und aus ihr zu lernen?
Ich bin darüber sehr besorgt. Und ich lege die Betonung nicht auf Holocaust-Erziehung. Es geht um Erziehung gegen Hass. Das ist kein jüdisches Problem. Die Juden waren die Opfer und sind es immer noch, aber viele andere Völker auch.

In Deutschland hört man öfter den Satz: »›Nie wieder‹ ist jetzt.« Wie verstehen Sie ihn?
Ein bisschen esoterisch, oder? »›Nie wieder‹« ist jetzt. Nun, da haben wir es wieder!

Die Formulierung wird in Zusammenhang mit den Massakern des 7. Oktober 2023 und dem wachsenden Antisemitismus verwendet.
Es gibt ein sehr großes Missverständnis darüber, was an diesem schrecklichen Tag geschehen ist, und die Folgen, die seitdem passiert sind. Eine Menge Leute sind seitdem völlig aus der Spur geraten. Trump leistet seinen Beitrag. Jetzt sind sie nach Gaza zurückgekehrt und töten wieder Menschen. Es ist kompletter Wahnsinn. Ich fühle mich ziemlich hoffnungslos in der jetzigen Situation. Falls es irgendetwas gibt, das wir tun sollten: darüber sprechen. Ich denke, wir müssen das tun.

Wie denkt Ihre Mutter darüber?
Sie ist verzweifelt und entsetzt. Es ist schrecklich, dass sie diese Dinge in ihrem Leben wieder sieht. Ich habe sie nicht gefragt, und ich werde sie auch nicht danach fragen, wie sie sich damit fühlt, dass ihre Tochter jetzt in einem Land lebt, in dem der Antisemitismus wächst und wir einen Vorfall pro Stunde sehen. Weil wir wieder in den 30er-Jahren angekommen sind.

Glauben Sie wirklich, dass wir wieder in den 1930er-Jahren leben?
Es sieht anders aus. Es riecht anders. Aber es passiert dasselbe. Langsam, heimtückisch hat es sich eingeschlichen – und wurde normal.

Es gibt heute in Deutschland keine Diskriminierung durch den Staat und keine antijüdischen Gesetze.
Nein. Noch nicht. Aber wir müssen aufmerksam sein, was sich auf globaler Ebene entwickelt. Es ist klar geworden, dass Menschen nicht aus der Geschichte lernen. Deshalb denke ich, dass wir uns in einer äußerst ernst zu nehmenden Situation befinden. Wie könnten wir annehmen, dass wir uns nicht wieder in realer Gefahr befinden, wo wir doch gefährdet sind? Sonst würde man Synagogen und Kindergärten nicht bewachen. Sonst könnten wir sorglos mit einer Kippa auf dem Kopf herumlaufen, ohne dass sich jemand darüber lustig machen würde. Aber das geht nicht. Wenn es also nicht dasselbe sein soll, was ist es bitte dann? Niemand will sich als Jude zu erkennen geben – das ist heute mehr oder weniger die Realität. Ich bin so erschöpft von alledem, aber ich muss es unbedingt tun! Ich habe das Gefühl, es ist mir lieber, dass jemand auf mich schießt, wenn ich etwas Sinnvolles tue, als dass ich stumm bleibe und mich verstecke. Es kommt für mich einfach nicht infrage.

Ihr erstes Buch ist »Briefe nach Breslau«, das zweite »Ich schreib euch aus Berlin«. Inzwischen haben Sie auch ein Theaterstück geschrieben und arbeiten an einem dritten Buch. Wie soll es heißen?
»Life after«. Es ist ein Buch über das letzte Jahr und das Leben meiner Mutter. Eine Geschichte von Liebe und Verlust, Müttern und Töchtern, Familien und Dingen, die im Leben passieren. Wenn die Geburtstagsfeiern vorbei sind, werde ich Zeit haben, weiterzuschreiben. Ich habe das Gefühl, es ist diese Art von Buch, das die Leute gerne lesen werden. Denn jeder macht etwas Ähnliches durch, nur sind die einzelnen Geschichten immer ein bisschen unterschiedlich. Außerdem kennen die Leute meine Mutter nur als eindimensionale Person, sie halten sie ausschließlich für stark, ausschließlich für eine Überlebende.

Sie hatten große Konflikte mit Ihrer Mutter, weil sie Ihre Bedürfnisse als Kind nicht erfüllen konnte. Im Lauf Ihres Lebens haben Sie vieles bewältigt, unter anderem Ihre Drogensucht. Aber wird es Ihnen jemals möglich sein, die Beziehungskonflikte zu Ihrer Mutter zu lösen?
Nein. Niemand kann entkommen. Wissen Sie, meine Mutter hat ein Bild von sich selbst entworfen, von einem Menschen, der alles schafft. Das hat sie sehr, sehr, sehr lange getan. Und dann war es plötzlich vorbei. Ich möchte das letzte Kapitel im Leben meiner Mutter erzählen. Es ist nicht alles wunderbar. Nein. Aber das Leben an sich ist nicht wunderbar. Und jetzt, wo alle diese Pflegekräfte um sie herum sind, habe ich das Gefühl, dass ich nicht einmal an sie herankomme. Es ist sehr herausfordernd.

Was wünschen Sie Ihrer Mutter zu ihrem 100. Geburtstag?
Was ich ihr wünschen würde, ist etwas Freude, wenn sie sich umschaut und sieht, was sie in ihrem Leben geschaffen hat. Und für mich selbst wünsche ich mir, dass meine Mutter gutheißt, was ich tue, und dass dieses Licht auf mich ausstrahlt.

Ich denke, das wünscht sich wohl jedes Kind.
Natürlich. Es ist das Normalste auf der Welt. Aber in diesem Haushalt …

Ihre Mutter und Sie scheinen einen ähnlichen schwarzen Humor zu haben.
Ja, das haben wir gemeinsam. Und mein Humor wird immer schwärzer und schwärzer. Ich hatte schon Visionen, weil meine Mutter immer wieder sagt, dass sie nicht mehr hier sein will. Ich habe ihr darauf geantwortet: Bleib bitte lebendig bis zum 18. Juli!

Mit der Psychoanalytikerin, Schriftstellerin und Mutter eines Sohnes sprach Ayala Goldmann.

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