Essay

Ein neues Zeitalter

Noch ein letztes Glas: Angela Merkel und Premierminister Benjamin Netanjahu in Jerusalem (31. Januar 2011)

»Wir schaffen das.« Drei ikonische Worte, die wohl mehr als alle anderen die Flugbahn der politischen Karriere Angela Merkels bestimmten. Es war im August 2015, und was geschafft werden sollte, war die Öffnung der Grenzen und die willkommene Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland. Es ging auch um Souveränitätsverzicht.

Diese drei Worte hallen bis heute nach. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: »Merkel muss weg!« Drei weitere ikonische Worte. Auch diese haben bis heute ihr Echo. Dabei geht es auch um die verschiedenen Beschreibungen derselben Wirklichkeit.

Nicht alle Juden konnten sich mit »Wir schaffen das« identifizieren.

»Wir schaffen das«, die deutsche Version des »Yes we can« des ehemaligen US-Präsidenten Obama, und »Merkel muss weg« schwingen nicht nur in Deutschland und bei den Deutschen mit, sondern jenseits nationaler und ethnischer Grenzen. Ruth Klüger, eine Überlebende der Schoa, hielt die Gedenkrede im Deutschen Bundestag zum internationalen Holocaustgedenktag nur einige Monate später am 27. Januar 2016. Sie endete ihre Rede mit »Wir schaffen das«, als sie sich bewundernd über die offenen Grenzen und die Großherzigkeit in Merkels Deutschland aussprach.

SOUVERÄNITÄT Aber nicht alle Juden in und außerhalb Deutschlands konnten sich mit dem »Wir« dieses Schaffens identifizieren. Sie waren oft hin- und hergerissen zwischen ihrer eigenen jüdischen Vergangenheit als Flüchtlingskinder und -enkel und dem in ihren Augen prekären Status als Juden in Deutschland. Es zeigten sich Anzeichen von alt-neuem Antisemitismus, und das nicht nur vonseiten der muslimischen Flüchtlinge aus Syrien. Gehörten die Juden in Deutschland auch zu dem »Wir«, das da etwas schaffen sollte?

Auch in Israel hallte Merkels »Wir schaffen das« oft entlang politischer und moralischer Grundlinien nach. In Israel war und ist das Problem von Asylsuchenden auf der Agenda, aber hier wollte man es eher nicht schaffen. Für die israelische Regierung geht es um Souveränität und die Kontrolle der Grenzen, die in der israelischen Geschichte immer eine prekäre Angelegenheit war.

Merkels Politik der offenen Grenzen galt als naiv und gefährlich. Das offizielle Israel spricht eine klare Sprache gegen das »Wir schaffen das« und sieht Merkels Selbstverpflichtung als Schwäche oder als verantwortungslose Politik.

Auf der anderen Seite waren es gerade israelische Menschenrechtsorganisationen, die plötzlich ihre Bewunderung für Deutschland und Merkel zeigten. Ich erinnere mich an diese Zeit von 2015 und 2016: Das liberale Milieu sah sich gerade und ausgerechnet von Deutschland in seinen Ansichten gestärkt, und das in einer Zeit, als die israelischen Medien berichteten, dass die islamische Flüchtlingswelle Europa von Grund auf, und nicht zum Guten, verändern werde.

MACHTLOSIGKEIT Die israelischen Menschenrechtsorganisationen in dieser Zeit sahen sich in der Tradition der jüdischen Machtlosigkeit, näherten sich diesen Men­schen aus einer explizit jüdischen Perspektive. Diese ist anders konstruiert als die israelische Perspektive der Souveränität. Hier treffen jüdisch-ethische und israelisch-nationale Interessen frontal aufeinander. Merkel wurde plötzlich eher mit der ersten Perspektive identifiziert, einer jüdischen Tradition jenseits der Souveränität. Bis dahin dachten Juden in Europa, dass jüdische und israelische Interessen deckungsgleich sind. Das scheint nicht mehr der Fall zu sein.

Jüdisch-ethische und israelisch-nationale Interessen kollidieren.

Das nun kommende Ende der Merkel-Ära hat daher nicht nur für Juden in Europa, sondern auch für Israel Konsequenzen. In der Tat wird eine neue Zeit beginnen. Nicht um Angela Merkel geht es allein, nicht um ihre Flüchtlingspolitik, ihre als deutsche Bundeskanzlerin immer wieder betonte moralische Verpflichtung gegenüber Israel. Bei ihrem Abtritt geht es auch um das Ende des deutschen Nachkriegsprojekts.

Westdeutschland und (West-)Europa sind politisch nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst als Antithese zum nationalistischen Europa und seiner physischen und moralischen Verwüstung aus der Taufe gehoben worden. Hier entstand ein Europa mit der neuen deutschen Republik, das moralisch, politisch, ökonomisch, historisch um Versöhnung rang. In einem entschiedenen Bruch mit der Vergangenheit sollte die europäische Kriegsgeschichte definitiv beendet werden.

Das war wohl auch die Idee hinter der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im Jahr 2012. Und es ist insbesondere die Erinnerung an den Holocaust, in dem sich die Dilemmata dieses Prozesses zeigen.

HARTNÄCKIGKEIT Ich sehe Angela Merkel als eine der letzten Vertreterinnen dieses Europas. Dazu gehört auch ihre Hartnäckigkeit, mit der sie dieses gerade aus der deutschen Vergangenheit entstandene Projekt anderen europäischen Nationen gegen deren Willen aufzwingen will. Merkel wollte nicht nur den Euro in eine europäische D-Mark verwandeln, sondern auch das moralische Versöhnungsprojekt Deutschlands europäisch aufladen.

Es sollte niemanden verwundern, dass es gerade die Ost- und die Südeuropäer waren, die sich an diesem deutschen Europa nicht wirklich beteiligen wollten. Sie sahen sich diesem moralischen Projekt der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht verpflichtet. Aber auch innerhalb Deutschlands waren Alternativen zu diesem Projekt legitim geworden. Deutschland wird europäischer werden, aus dem deutschen Europa wird wohl ein europäisches Deutschland werden.

Merkel wollte das deutsche Projekt ganz Europa aufzwingen.

Israel wird davon wohl politisch profitieren können, denn das europäische Deutschland und Israel werden sich näher sein als zuvor. Der deutsche und europäische Gründungsmoment im Westen des Kontinents entsprach nicht dem Gründungsmoment Israels. Da liefen die Erinnerungsprozesse anders. 1948 hat in Israel eine andere Bedeutung als im Westen Europas.

Die allgemeine Menschenrechtserklärung und die UN-Konvention gegen Völkermord einerseits und die israelische Unabhängigkeitserklärung andererseits berufen sich beide auf die Vergangenheit, aber interpretieren sie anders. Während die eine Erklärung Macht und Souveränität transnationalisieren will, ist die andere ein Manifest der neu erreichten Souveränität und der damit einhergehenden Macht- und Gewaltausübung des souveränen Staates.

FÄHIGKEIT Gerade Juden erlebten in der Zeit ihrer Verfolgung und Vernichtung während des Zweiten Weltkriegs das »grenzenlose« Versagen des Völkerrechts, aber die Konsequenzen, die sie für den jüdischen Staat Israel aus dem Versagen der internationalen Abkommen zogen, zielen nicht auf eine Delegitimation des Nationalstaates, sondern umgekehrt auf Souveränität und die militärische Fähigkeit, sich zu wehren.

So lebten und leben viele Juden in Europa in dieser Spannung zwischen der Souveränität des Staates Israel, der sie sich verpflichtet fühlen und die auch gerade im Schutz der jüdischen Institutionen in Deutschland und anderswo klar manifestiert wird, und der gleichzeitigen europäischen Einschränkung der Souveränität, die auch das Recht von Minderheiten garantiert und letztendlich auch zur sogenannten Willkommenskultur Merkels geführt hat. Es ist für viele Juden in Deutschland eine schwer auszuhaltende Spannung.

70 Jahre sind eine lange Zeit, Holocaust, die israelische Staatsgründung, die Gründung der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, all das liegt nun eine Weile hinter uns. Angela Merkel hat es wortwörtlich geschafft, diese Zeit näherzubringen, als sie es war. »Merkel muss weg« heißt dann auch, dass die Nachkriegsgeschichte weg muss. Auch in dieser Hinsicht nähert sich Israel dem post-postnationalen Europa. Ein neues europäisches Zeitalter wird damit beginnen. Ob wir das schaffen?

Natan Sznaider, 1954 in Deutschland als Kind aus Polen stammender staatenloser Überlebender der Schoa geboren, machte mit 20 Jahren Alija und lehrt heute als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv.

Berlin

Sunnyi Melles: »Als kompliziert zu gelten, halte ich aus«

Selbst Brad Pitt ist ein Fan der jüdischen Schauspielerin

 02.12.2024

Kulturkolumne

Hauptsache, richtig verbunden

Wie ich die Telekom besiegte – in der härtesten Nachrichtenwoche meines Lebens

von Ayala Goldmann  02.12.2024

Dokumentation

Antisemitismus und »Palästinensismus« unter syrischen Geflüchteten

In Frankfurt am Main organisiert das Tikvah Institut eine Konferenz zur aktuellen Antisemitismusforschung. Günther Jikeli hat am Sonntag eine Studie zu Syrern in Deutschland vorgestellt

von Günther Jikeli  01.12.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Wie mir ein Münchener Lachs-Tatar gegen Flugangst half

von Katrin Richter  01.12.2024

Dokumentation

»Antisemitismus wiederholt sich nicht, Antisemitismus setzt sich fort«

In Frankfurt am Main organisiert das Tikvah Institut eine Konferenz zur aktuellen Antisemitismusforschung. Mitveranstalterin Julia Bernstein hielt am Sonntag die Eröffnungsrede

von Julia Bernstein  01.12.2024

Berlin

Herzl ist tot, es lebe Herzl!

Eine gut besuchte Tagung erkundete die Ursprünge des Zionismus und ihre Aktualität

von Mascha Malburg  01.12.2024

Zentralratspräsident

Josef Schuster: Negatives Israel-Bild in Medien stärkt Extremismus

Der Zentralratspräsident mahnt die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, sich mehr ihrer Verantwortung bei der Berichterstattung über den Gaza-Krieg bewusst zu werden

 30.11.2024

Frankfurt am Main

Tikvah Institut: Konferenz zu aktueller Antisemitismusforschung

Die Herbstakademie findet von Samstag bis Montag auf dem Campus der Frankfurt University of Applied Sciences statt

 29.11.2024

Israel

»Wir bluten, aber wir singen«

David Broza ist Israels Hoffnungsmaschine. Der 69-Jährige spielt seit dem 7. Oktober fast täglich vor ausverkauften Hallen, auf Armeebasen und in Flugzeugen. Ein Gespräch über die Kraft der Musik

von Sophie Albers Ben Chamo  29.11.2024