Literatur

Ein Jahrhundertleben

Ihre Bücher strahlten so viel Wärme und Liebe aus, wie es nur große Literatur vermag: Judith Kerr (1923–2019) Foto: Ullstein

Literatur

Ein Jahrhundertleben

Zum Tod der britisch-deutschen Schriftstellerin und Illustratorin Judith Kerr

von Katrin Diehl  29.05.2019 14:06 Uhr

Judith Kerr hatte einmal einen Traum. Es war keiner von der schönen Sorte. Sie träumte von ihrer eigenen Beerdigung. Alles war trist, grau, äußerst ungemütlich und natürlich ziemlich deprimierend. Nur ihre beiden Kinder waren auf den Friedhof gekommen, Tacy und Matthew, im echten Leben längst erwachsen, im Traum aber wieder zu Kindern geworden.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte das eine Kind. »Lass uns zu McDonald’s gehen«, antwortete das andere. »Und als ganz und gar jüdische Mutter ging mir durch den Kopf: ›Typisch! Sie haben mich kaum beerdigt, da gehen sie schon los und essen Junkfood‹«, erinnerte sich Judith Kerr an ihre Aufwachgedanken. Sie war da bereits eine ältere Dame, der Traum wühlte sie auf und hatte Folgen (in ihrer Werkbiografie von 2013 lässt sich das nachlesen). 2002 nämlich und nach immerhin 15 Bänden ließ sie ihren bekannten Bilderbuchkater Mog sterben.

1933 flohen Judith Kerr und ihre Eltern vor den Nazis aus Berlin – gerade noch rechtzeitig.

TROUBLEMAKER Um zu verstehen, wie sehr das ihre Leserschaft getroffen hat, muss man Mog noch einmal kurz ins Leben zurückholen, ihn vor Augen haben, dick, wie er war, mit seinen treuen, immer etwas ratlosen Punktaugen, dem weißen Lätzchen im grau getigerten Fell, eine einfache Seele, ein Pechvogel, ein Troublemaker und am Ende des Buches dann doch ein Held, geliebt von seiner »Familie« – Vater, Mutter, zwei Kinder.

Am Mittwoch vergangener Woche ist Judith Kerr nun im Alter von 95 Jahren in London gestorben, Judith Kerr, die große Illustratorin und weltbekannte Kinder- wie Jugendbuchautorin. Das schmerzt. Dass ihre Bücher in Wort und Bild so viel Wärme, ja, Liebe ausstrahlen, hat mit Familie zu tun, ihren Eltern, dem Vater Alfred Kerr, Großstadtfeuilletonist, Bestsellerautor, Mitherausgeber des »Berliner Tageblatts«, der Mutter Julia, Komponistin, zweite, um 31 Jahre jüngere Ehefrau von Alfred.

1933 floh die Familie aus Berlin. Judith war damals zehn Jahre alt, der Bruder Michael zwölf. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren alle Zahlungen an den Vater eingestellt worden. Seine Schriften wurden ins Feuer geworfen, es ergeht die Erlaubnis, den 65-Jährigen zu jagen. Die Kerrs schaffen es in die Schweiz, dann nach Frankreich, schließlich 1935 nach England, nach London. Um die Kinder vor Ängsten zu bewahren, geben die Eltern der Flucht den Anschein einer großen Abenteuerreise. Die Familie war wie eine »Insel der Geborgenheit, vom Rest der Welt getrennt«, erinnerte sich Kerr später. Und so erzählte Judith Kerr auch immer wieder gerne, wie sie zusammen mit ihrem Vater ihren Blick über die Dächer von Paris streifen ließ und entzückt ausrief: »Ist es nicht wundervoll, ein Flüchtling zu sein?«

STATIONEN Judith Kerr zeichnete, seit sie einen Stift halten konnte. Und sie tat es überdurchschnittlich gut. Dass die Mutter ihre Kinderkunstwerke als »Dinge, die es wert waren«, mit in den Fluchtkoffer gepackt hatte, berührte Judith Kerr ihr Leben lang. In London angekommen, hatte man Pläne, wusste aber nicht so recht, wie man dies anpacken sollte, zumal das Geld knapp war. Die englische Sprache versagte Alfred Kerr die Möglichkeit, seine Wortkunst weiter zu betreiben.

Judith Kerr zeichnete, seit sie einen Stift halten konnte. Und sie zeichnete überdurchschnittlich gut.

Als ihm seine Tochter verkündet, Illustratorin werden zu wollen, schätzt er die Lage richtig ein: »Du wirst sehr hart arbeiten müssen, darin sind sie sehr gut in diesem Land.«
1945 begann Judith Kerr ihr Studium an der Londoner Central School of Art and Crafts. Sie arbeitete als Malerin und Textildesignerin, von 1953 an überprüft sie für die BBC Theatertexte auf deren Qualität und übersetzt aus dem Deutschen und Französischen. Bei der BBC lernte sie auch ihren zukünftigen Mann, den Autor Nigel Kneale, kennen. 52 Jahre sind die beiden verheiratet, als Kneale 2006 mit 84 Jahren stirbt. Der Mann, der all ihre Buchideen so eng begleitet hatte, fehlte ihr sehr.

TIGER 1968 erscheint Judith Kerrs erstes Bilderbuch, The Tiger Who Came to Tea, was natürlich mit ihren Kindern zu tun hatte und deren Liebe zu Tieren. Töchterchen und Mutter sitzen da beim Tee, als es an der Tür klopft. Die Mutter überlegt, wer das sein könne. Alle Personen, die ihr einfallen, kommen irgendwie nicht infrage. »Besser, wir machen auf und sehen einmal nach«, heißt der Satz, der in seiner Helligkeit in alle Bücher Judith Kerrs hineinwirkt, auf Vertrauen baut, nach Vertrauen verlangt. Dass die Engländer ihre Familie so freundlich aufgenommen hatten, hat Judith Kerr ihnen nie vergessen.

Ihre Bücher strahlten so viel Wärme und Liebe aus, wie es nur große Literatur vermag.

Vor der Tür steht jedenfalls ein riesiger Tiger. Die Küche, in der er sich bald breitmacht, ist, wenn man sich verschiedene Fotos aus dem »Familienalbum« ansieht, Judith Kerrs Küche, der Tiger – der erst wieder geht, nachdem absolut nichts Essbares mehr zu finden und die »Wasserleitung leer getrunken« ist – eine herrliche Erinnerung an etwas, von dem man nicht weiß, ob es wirklich stattgefunden hat.

Es folgten dann die Kater-Bände. Und als Mog also tatsächlich auf sanften Pfoten in den Katerhimmel entschwand, berichtet darüber sogar der »Guardian« und schaltet eine Todesanzeige.

KANINCHEN Für den Kinderroman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erhielt Judith Kerr 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Die Geschichte eines Mädchens und dessen Familie, die aus Nazideutschland fliehen mussten, war natürlich ihre erinnerte und literarisierte eigene Geschichte, und sie war bahnbrechend, besonders für Deutschland, zeigte sie doch eine – offensichtlich akzeptierte – Möglichkeit, wie man Kindern über die Zeit des Nationalsozialismus und der Verfolgung der Juden berichten konnte. Natürlich brauchte die Geschichte der aufregenden Flucht ein gutes Ende, und natürlich ging es in ihr kaum ums Jüdischsein.

Judith Kerr hatte sich zu diesem Buch irgendwie verpflichtet gefühlt. Zusammen mit ihren Kindern hatte sie sich einen Musicalfilm über die Trapp-Familie und deren Flucht aus Nazideutschland angesehen, woraufhin ihr Sohn sagte, dass er sich jetzt endlich gut vorstellen könne, wie das damals gewesen sei mit der Flucht seiner Mutter. Das wollte und konnte Judith Kerr nicht so stehen lassen.

Vor drei Monaten ist beim Beltz-Verlag ein Buch mit dem Titel Zeichnen für ein Europa erschienen, in dem sich Künstler und Künstlerinnen bildlich für Europa starkmachen, unter ihnen auch Judith Kerr. Sie ließ da ihren Tiger und ihren Kater übers Blatt spazieren, beide mit schwingender Europafahne in ihren Pfoten.

In Berlin, ihrer Geburtsstadt, war sie 2016 das letzte Mal gewesen. Sie stellte da ihr neues Buch Ein Seehund für Herrn Albert vor (Albert ist Alfred, und der zog tatsächlich einmal einen Seehund groß). Judith Kerr hat den von ihrem Vater in einem Brief geäußerten Auftrag, »glücklich zu sein«, ihr ganzes Leben lang ernst genommen.

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  30.04.2025

Sehen!

»Der Meister und Margarita«

In Russland war sie ein großer Erfolg – jetzt läuft Michael Lockshins Literaturverfllmung auch in Deutschland an

von Barbara Schweizerhof  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

von Niklas Hesselmann  30.04.2025

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025