Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminskys Republik der Taubheit als Sommer-Sonnen-Urlaubs-Buch zu empfehlen, hat etwas Zwiespältiges, fast Obszönes. Es zu lassen, allerdings auch. Der schmale Band besitzt Dringlichkeit, ist eine Parabel gegen den Krieg, das Wegsehen, das Schweigen – ein Wagnis also. Kaminsky, 1977 in Odessa geboren, 1993 mit seiner Familie in die USA eingewandert, geht es ein. Er überschreitet Genre- und Stilgrenzen, ohne dass er dabei sein Lesepublikum orientierungslos oder irritiert zurückließe.

Der Aufstand des Geschichtenerzählens wird brutal niedergeschlagen

In Vasenka, einem fiktiven Städtchen, herrscht Krieg. Die Besatzung wütet grausam, Angst und Schrecken machen sich im Alltag wie in den Seelen der Menschen breit. Ein Puppentheater bildet das Zentrum der »Handlung« und des imaginären Ortes. Die Puppenspieler betreten spielbereit die Bühne, was den Soldaten nicht passt. Brutal schlagen sie den Aufstand des Geschichtenerzählens nieder, nur Petya, ein tauber Junge, spielt weiter. Er wird erschossen. Die Menschen übernehmen die Taubheit des Jungen. Sie hören keine Befehle mehr.

Die Gewalt nimmt zu. Einzelne Personen treten als »Dramatis Personae« aus der Menge heraus, zum Beispiel die Puppenspieler Sonya und Alfonso – ein Paar, das in Liebe zueinander vergeht. Beide werden umgebracht. Das Mädchen Anuschka, das Sonya gerade geboren hat, überlebt.

Kaminsky, seit seiner falsch behandelten Mumps-Erkrankung als Kind schwerhörig, erzählt in Gedichten, die sich Kurzprosaformen annähern und an ein Theaterstück erinnern, das er in zwei Akte teilt. Unter den luftigen Texten erscheinen immer wieder feinstrichige Zeichnungen. Die Einwohner der Stadt hätten ihre eigene Gebärdensprache erfunden, heißt es im Nachwort. Deaf Republic, wie Kaminskys Titel im Original lautet, kam in den USA 2019, drei Jahre vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, heraus. In Deutschland erschien es im Mai 2022, der Krieg hatte fast drei Monate zuvor begonnen.

Ilya Kaminsky: »Republik der Taubheit«. Aus dem Englischen von Anja Kampmann. Hanser, München 2022, 104 S., 22 €

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