Fiktion

E-Mails von Herzl

»Wir wissen ja, dass Israel nicht auf dem Mond, sondern mitten in der Welt liegt – und zwar in der arabischen«: Herzl-Graffito in Tel Aviv Foto: Sabine Brandes

Von: doron.rabinovici@liter.at
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 13. 12. 14 12:25
An: natan.sznaider@subt.il

Hallo Natan,

Du wirst nicht glauben, was für eine Meschuggas mir vor einer Stunde passiert ist: Ich erhielt eine E-Mail von einem gewissen Theodor Herzl. Nein, nicht etwa von irgendeinem Namensvetter. Er klingt ganz wie der Alte mit Prophetenbart. Seine Sprache, sein Duktus, seine Vision. Das ist kein Streich von irgendeinem Clown. Ich würde Dir nicht davon erzählen, käme nicht jedes Wort so daher, als hätte es der Patriarch von Zion selbst geschrieben.

Nu, was sagst Du dazu? Zugegeben: Was er schreibt, tönt ein wenig schräg, ja, wuschelig, doch das ist bei ihm nichts wirklich Neues, oder? Das wurde originell genannt. Herzl wohnte ja einst in der Berggasse, nur einen Steinwurf vom alten Freudsigmund entfernt. Sie lüfteten die Hüte, wenn sie einander sahen. Freud nahm in seinem Traumbuch auch auf Herzls Stück Das neue Ghetto Bezug. Ich frage mich manchmal, wie die ganze Geschichte verlaufen wäre, wenn Herzl eines Morgens Freud aufgesucht und gesagt hätte: »Herr Doktor, Herr Doktor, ich habe einen Traum?«

Lass von Dir hören, Doron

Von: natan.sznaider@subt.il
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 13. 12. 14 12:25
An: doron.rabinovici@liter.at

Hallo Doron,

das ist doch wunderbar. Warum tust Du so etepetete? Ich finde das spannend. Was schreibt er denn? Was hält er von all dem, was hier geschieht? Und zwar in seinem Namen! Der Arme …

Du meinst, er klingt schräg und wunderlich? Wie nennst Du ihn: wuschelig? Nebbich! Verrückter als das, was seine Nachfolger hier aufführen, kann er gar nicht sein. Niemand im gegenwärtigen Israel hat seine Statur und sein Auftreten. Welcher Politiker ist heute noch so ein Sir?

Im Übrigen ist er derzeit wieder sehr en vogue. Alle – ob links oder rechts – reden darüber, ob sie ihm gerecht werden oder seine Ideen im Grunde verraten. Sogar die Postzionisten berufen sich auf ihn. Du musst gleich antworten. Und vergiss nicht, mir zu berichten, was er so von sich gibt.

N

Von: doron.rabinovici@liter.at
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 13. 12. 14 20:53
An: teddyherzl@altneuland.com
Cc: natan.sznaider@subt.il

Sehr geehrter Herr Doktor Herzl,

ich bin überrascht, nach so langer Zeit von Ihnen zu hören; nehmen Sie es mir nicht krumm, doch ich war davon überzeugt, Sie seien längst tot. Seit mindestens hundert Jahren!

Nicht nur, weil so viel Zeit verging und nichts mehr von Ihnen erschien, wobei alles, was von Ihnen erschien, heute kaum mehr gelesen wird und wie aus einer Welt von Vorvorgestern klingt. Ich will auch nicht davon beginnen, wie Sie zum Heiligen einer Bewegung erstarrt sind. Sie setzten immerzu alles daran, der Moses der neuen Zeit zu werden. Der war ja auch so ein Glückskind wie Sie gewesen. Wie Moses setzten Sie sich für die Unterdrückten Ihres Volkes ein. Nu, Sie wollten so sein wie er, und Ihr Wunsch ist Ihnen so was von in Erfüllung gegangen. Sie sind eine Urgestalt, von deren wirklicher Existenz die meisten jüdischen Menschen nichts wissen wollen.

Moses, von dem wir nicht einmal historisch gesichert annehmen dürfen, dass er denn je lebte, ist indes durchaus lebendiger als Sie, denn immerhin wird die Geschichte des Exodus allen jüdischen Kindern zu Pessach erzählt. Zudem sprach er Hebräisch. Stiege er heute aus einem Bus in Tel Aviv, könnte er etwa um ein Stück Brot oder ein Glas Wasser bitten. Sie, Herr Doktor, nicht. Sie beherrschen kein Hebräisch. Sie wären im Israel der Gegenwart verloren. (...)

LG, Doron Rabinovici

Von: teddyherzl@altneuland.com
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 14. 12. 14 10:03
An: doron.rabinovici@liter.at
Cc: natan.sznaider@subt.il

Sehr geehrte Herren!
Ich bin 1860 in Budapest geboren, nahe der Synagoge, in der mich der Rabbi jüngst mit den strengsten Worten anklagte, weil ich – wirklich und wahrhaftig – weil ich für die Juden mehr Ehre und Freiheit, als sie gegenwärtig genießen, zu erlangen versuche. Erst wurde ich in eine jüdische Vorschule geschickt, wo ich ein gewisses Ansehen genoß, weil mein Vater ein wohlhabender Kaufmann war. Meine früheste Erinnerung an diese Schule besteht in Prügeln, welche ich erhielt, weil ich die Einzelheiten des Auszugs der Juden aus Ägypten nicht wußte. Gegenwärtig möchten mich viele Schulmeister prügeln, weil ich mich zuviel an den Auszug aus Ägypten erinnere.

Während meines Aufenthaltes in der obersten Klasse des Gymnasiums starb meine einzige Schwester, ein Mädchen von 18 Jahren; meine gute Mutter wurde vor Kummer so schwermütig, daß wir 1878 nach Wien verzogen. Während der Trauerwoche besuchte uns Rabbi Kohn und fragte mich, was meine Pläne für die Zukunft wären. Ich sagte ihm, daß ich ein Schriftsteller werden wollte, worauf der Rabbi seinen Kopf ebenso unzufrieden schüttelte, wie er später den Zionismus mißbilligte. Eine Schriftstellerlaufbahn ist kein eigentlicher Beruf, schloß der unzufriedene Rabbi. (...)

Während der letzten zwei Monate meines Aufenthaltes in Paris schrieb ich das Buch Der Judenstaat. Ich erinnere mich nicht, je etwas in so erhabener Gemütsstimmung wie dieses Buch geschrieben zu haben. Heine sagt, daß er die Schwingen eines Adlers über seinem Haupte rauschen hörte, als er gewisse Verse niederschrieb. Ich glaubte auch an so etwas wie ein Rauschen über meinem Haupte, als ich dieses Buch schrieb. Ich arbeitete an ihm täglich, bis ich ganz erschöpft war; meine einzige Erholung am Abend bestand darin, daß ich Wagnerscher Musik zuhörte, besonders dem Tannhäuser, eine Oper, welche ich so oft hörte, als sie gegeben wurde.

Nur an den Abenden, wo keine Oper aufgeführt wurde, fühlte ich Zweifel an der Richtigkeit meiner Gedanken. Zuerst hatte ich den Gedanken gehabt, diese meine kleine Schrift über die Lösung der Judenfrage nur privatim unter meinen Freunden umlaufen zu lassen. Die Veröffentlichung dieser Ansichten habe ich erst später ins Auge gefaßt; ich hatte nicht die Absicht, eine persönliche Agitation für die jüdische Sache zu beginnen.

Als ich mein Buch beendigt hatte, bat ich einen meiner ältesten und besten Freunde, das Manuskript zu lesen. Während er es las, fing er plötzlich an zu weinen. Ich fand diese Erregung ganz natürlich, da er ein Jude war; ich hatte ja auch manchmal beim Schreiben geweint. Aber zu meiner Bestürzung gab er einen ganz anderen Grund für seine Tränen an. Er dachte, ich wäre irrsinnig geworden, und da er mein Freund war, machte ihn mein Unglück sehr traurig. Er lief weg, ohne ein anderes Wort zu sagen. (...)

Ich hatte dann eine sehr ernste Krisis durchzumachen; ich kann sie nur damit vergleichen, wenn man einen rotglühenden Körper in kaltes Wasser wirft. Freilich, wenn dieser Körper zufällig Eisen ist, wird er Stahl. An jenem Tage begannen meine Beunruhigungen betreffs des Judenstaates. Während der zwei und mehr folgenden Jahre habe ich viele, viele traurige Tage erlebt, und ich fürchte, daß noch mehr traurige Tage folgen werden. 1895 begann ich ein Tagebuch zu führen. Aber eines betrachtete ich als gewiß und über allem Zweifel erhaben: die Bewegung wird anhalten. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, aber der Zionismus wird nie sterben.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr Theodor Herzl

Von: doron.rabinovici@liter.at
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 14. 12. 14 15:53
An: teddyherzl@altneuland.com
Cc: natan.sznaider@subt.il

Sehr geehrter Herr Doktor Herzl,

selbst Ihre Gegner würden Ihnen sofort zustimmen, wenn Sie meinen, der Zionismus lebe weiter, und vor allem die Palästinenser wissen davon ein Lied zu singen. Ich wurde in jenem Staat geboren, den Sie erträumten. Ich lebe seit meinem dritten Lebensjahr in Österreich. Der Satz, den Sie, lieber Theodor Herzl, schrieben: »In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu«, wurde übrigens im Jahr 2001 von der Stadt Salzburg am Landgericht auf einer Marmortafel zitiert. Es fehlten indes Ihre weiteren Worte: »Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben, aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden.«

LG, Doron Rabinovici

Von: natan.sznaider@subt.il
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 14. 12. 14 17:42
An: teddyherzl@altneuland.com
Cc: doron.rabinovici@liter.at

Lieber Dr. Herzl, lieber Doron!

Fein, dass Sie mich mitreden lassen. Es gibt ja nicht nur die Träumer und die im Land Geborenen, die jetzt in Wien leben. Ich lebe hier, meine Familie lebt hier. Ich arbeite hier und verdiene mein Geld als Akademiker. Ich kam vor langen Jahren hierher – und zwar nicht nur aus Deutschland, sondern aus Überzeugung. Ich muss gestehen, Herr Herzl, dass ich Ihre Bücher als junger Zionist gar nicht gelesen habe. Wenn ich sie gelesen hätte, wäre ich wohl eher in die Vereinigten Staaten ausgewandert, was Ihren Utopien viel näher kommt. Ich kannte Sie nur als Ikone auf einem nicht mehr existierenden Geldschein, Ihr Name war überall, jedes kleine Städtchen hier hat eine Herzl-Straße, und meine Tochter lernte auf der Herzl-Schule. Also tot sind Sie sicher nicht. Ganz im Gegenteil. Ich erinnere mich, dass Ihr Name auch in der Unabhängigkeitserklärung als Seher des jüdischen Volkes auftaucht. (...)

Das ist wohl, was von Ihnen übrig blieb. Ein Seher. Aber was haben Sie eigentlich gesehen? Doch nicht 1948? Trotzdem, ein kleines Wunder. Sie wussten sehr wohl, dass die Juden keine Zukunft in Europa haben. Das sahen sie klar und deutlich. Und Ihre Grundauffassung, dass der Judenhass die Grundlage des modernen Judentums bedeutet, ist für viele Israelis, die keinen »Glauben« mehr haben, noch die relevanteste Definition des Juden.

Sie glaubten an den ewigen und natürlichen Antisemitismus und viele Ihrer Anhänger tun das immer noch. Sie riefen zur Tat, damit wurde der aktivistische Zionismus geboren, und es ist dieser Aktivismus, der den von Ihnen »gesehenen« Staat am deutlichsten markiert. Aber das macht politisches Denken in Israel fast unmöglich, da alles nur über die Brille des ewigen Antisemitismus gesehen wird. Als ob die Welt in Juden und Antisemiten aufgeteilt werden kann. Zweifellos kann die jüdische Geschichte Ihnen da Recht geben. Aber der von Ihnen gesehene Judenstaat hat dieses Problem nicht lösen können.

Antisemitismus ist zwar nach 1945 nicht mehr fein, nicht mehr ehrbar und anständig, ganz im Gegenteil, doch heute nennt man den Judenhass wohl Antizionismus, weshalb die von Ihnen erträumte Normalität nicht so ganz gelungen ist. »Die ganze Welt ist gegen uns«, hallt es einem hier im Land entgegen, und so wird die politische Hilflosigkeit der Diaspora im Grunde reproduziert, diesmal nur mit Armee und Gewalt.

Sie wollten doch, dass wir Juden so sein sollen wie alle anderen Heidenvölker. Das hat eher nicht geklappt. Dachten Sie wirklich, Sie könnten jüdische Politik zu einem Organisationsproblem machen? Gibt es überhaupt noch einen sicheren Ort für die Juden? Wie Frau Hannah Arendt 1941 bemerkte: Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher. Und wir wissen ja, dass Israel nicht auf dem Mond, sondern mitten in der Welt liegt – und zwar in der arabischen.

Gruß, Natan Sznaider

Von: doron.rabinovici@liter.at
Betreff: Herzl reloaded
Datum: 04. 05. 15 17:28
An: natan.sznaider@subt.il

Lieber Natan,
er meldet sich nicht mehr. Keine Ahnung, was los ist. Erst der plötzliche Kontakt damals. Jetzt der unvermittelte Abbruch. Zugegeben: Er war immer schon für Überraschungen gut. Ich mache mir ein wenig Sorgen um ihn. Ich muss zugeben, er wurde mir im Laufe unseres Austausches recht sympathisch. Von ihm stammt ja der ahnungsvolle Satz, den er in einem seiner letzten Briefe an seinen Freund David Wolffsohn, seinem Nachfolger in der zionistischen Bewegung, schrieb: »Macht keinen Unsinn, während ich tot bin.«

Das klang für mich immer, als habe er schon damals gewusst, wie viele Probleme noch auftauchen sollten. Hier, Natan, ließe sich wieder einmal die Frage stellen: Wenn die Briten uns Juden schon einen Staat zusagten, der ihnen nicht gehört, warum nicht die Schweiz? Bekanntlich erklärte Herzl schon nach dem ersten Zionistischen Kongress: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« – Eben: In Basel!

»Macht keinen Unsinn, während ich tot bin.« In den letzten Monaten, während dieses unseres Herzlichen Terzetts, fragte ich mich immer wieder: Könnte es sein, dass er diese Worte ganz anders meinte? Kokettierte er damit, der Messias höchstpersönlich zu sein? Einer, der gar nicht stirbt, sondern verschwindet, um immer wiederzukehren?

Oder sollte dieses Zitat eben nur im Sinne von Herzls Vorliebe für die Wiener Ironie gelesen werden? Jedenfalls halte ich nicht viel von falschem Pathos – und mit den metaphysischen Theorien, es gäbe ein Leben nach dem Tod, kannst Du mich auch jagen. Meinetwegen soll auf meinem Grabstein einstmals nur stehen: »Ich bin unter euch«. Und als Todesanzeige: »Er war immer anders – jetzt ist er verschieden«. Sehen wir uns bald? In Wien oder in Tel Aviv?

Lass von Dir hören, Dein Doron

Doron Rabinovici, Natan Sznaider: »Herzl reloaded – Kein Märchen«. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 207 Seiten, 19,95 €

Barrie Kosky

Die Deutschen unterschätzen das Lachen

In einem Interview blickt der Regisseur auf seine Arbeit und den Rollentausch nach der Aufführung

 06.10.2024

Thriller

Cohen und die Mafia

»Maror« von Lavie Tidhar dreht sich um einen korrupten Polizisten in Tel Aviv

von Katrin Diehl  06.10.2024

Essay

Erinnerung an M.

Vor einem Jahr wurde meine Bekannte beim Nova-Festival ermordet. Was wäre geschehen, wenn die Hamas sie nach Gaza verschleppt hätte? Tut Israels Regierung alles, um die Geiseln zu befreien?

von Ayala Goldmann  06.10.2024

Fernsehen

Er ist nicht Leonard Cohen und sie ist nicht Marianne

Warum eine Serie über die legendäre Lovestory von Leonard Cohen und Marianne Ihlen scheitern musste

von Maria Ossowski  02.10.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Champagner, Honig oder beides? Wie Rosch Haschana gelingt

von Nicole Dreyfus  02.10.2024

Zahl der Woche

72 Granatäpfel

Fun Facts und Wissenswertes

 02.10.2024

Aufgegabelt

Granatapfel-Gelee

Rezepte und Leckeres

 02.10.2024

Kolumne

Anwesenheit zählt

Eine Agnostikerin in der Dohány-Synagoge in Budapest

von Ayala Goldmann  01.10.2024

Meinung

Cem Özdemir, Diskursganoven und worüber eben doch gesprochen werden sollte

Ein Gastbeitrag von Rebecca Schönenbach

von Rebecca Schönenbach  01.10.2024