Golem

Doppelgänger der Seele

Es stimmt also wirklich: Staubreste des historischen Golems bedecken bis heute den Dachboden der Altneu-Synagoge in Prag. Joshua Cohen hat sie selbst gesehen und berührt, als er zu seinem neuen Roman Books of Numbers in der Prager Josefstadt recherchierte.

In seinem Bestseller beschäftigt sich der US-Autor mit dem Phänomen Internet, insbesondere mit den digital-metaphorischen Aspekten der Golem-Schöpfung heute: der Beziehung zwischen Beschwörung und Code, »master« versus »slave machine« und der Automatisierung in Kunst und Industrie. In seiner legeren Kleidung, mit Nickelbrille und in bequemer Sitzhaltung wirkt Cohen, der sich im Dezember 2016 auf Einladung des Jüdischen Museums in Berlin aufhielt, wie eine Mischung aus dem jungen Dustin Hoffman und einem New Yorker Intellektuellen à la Arthur Miller.

wüterich Der 36-jährige Amerikaner ist nicht der erste Künstler, den die Legende vom Golem fasziniert. So veröffentlichte im Jahr 1890 bereits der jiddische Schriftsteller Jizchok Leib Perez (1852–1915) den Roman Der Golem. Darin gelingt es dem Prager Rabbiner Loew, eine aus Lehm geformte Figur zu beleben. Der so zum Leben erweckte Golem verrichtet zunächst grobe Hausarbeiten; später wird er zum Beschützer des Ghettos.

Doch die künstlich erschaffene Figur hat noch eine zweite Seite – die des Wüterichs. Er zertrümmert Häuser, schleudert schwere Steine umher, reißt Bäume aus der Erde – der Golem als Zerstörer.

Diese Metapher ist es, die Cohen mehr als 120 Jahre später auf die digitalisierte Welt überträgt. Am Ende gelingt es Rabbi Loew, seinem Geschöpf die Lebensenergie wieder zu nehmen. Der Golem zerfällt zu Staub – jenem Staub, den Cohen in Prag vorzufinden glaubte.

cyborg Seit Perez’ Erzählung hat der Golem jüdische und nichtjüdische Künstler aller Coleur zu verschiedenen Arbeiten inspiriert, so den österreichischen Schriftsteller Gustav Meyrink, der ebenfalls einen Golem-Roman verfasste, und den Stummfilmregisseur Paul Wegener, der die mystische Figur gleich dreimal zum Titelhelden seiner Filme machte.

Die Bandbreite der Golem-Interpretationen – von seiner Erschaffung aus einem Ritual der jüdischen Mystik bis hin zum populären Erzählstoff im Film oder dessen Fortschreibung in künstlerischen und digitalen Welten – präsentiert auch das Jüdische Museum Berlin in seiner aktuellen Schau. Heute begegne uns der Golem vielerorts, so die Macher, sei es in der Bildenden Kunst, im Film oder in Computerspielewelten. Symbolisch könne er zudem »für jegliche Form menschlicher Schöpfung stehen, die Gutes bewirkt, aber gleichzeitig das Potenzial hat, außer Kontrolle zu geraten: Ob Cyborg, Atombombe oder politische Bewegung – der Golem hat viele Gesichter.«

Hier setzt Joshua Cohen an. Er erfasse »das Lebensgefühl der Online-Generation« und lege »den Finger darauf, was das Internet in seiner banalen Abgründigkeit für uns bedeutet«, lobt ihn die New York Times.

alter ego Im Fokus von Books of Numbers steht ein junger Schriftsteller, der den gleichen Namen trägt wie sein Schöpfer: Joshua Cohen. Die Figur sei fiktiv, stellt der Autor klar, und auf gar keinen Fall sein Alter Ego. Dann beginnt der reale Joshua Cohen eine Passage aus jener Geschichte zu lesen, in der sein fiktiver Namensvetter von einem Internetmogul und Milliardär als Ghostwriter für dessen Autobiografie angeheuert wird.

Bei der Figur des Milliardärs lassen sich Rückschlüsse auf reale Figuren ziehen, die im Internetbusiness reich wurden. Cohen nennt ihn schlichtweg »Principal«. Mit ihm erschuf er gewissermaßen ein Amalgam aus jenen bekannten Figuren, die etwa mit Google das Denken der Menschheit beeinflusst haben. Die »revolutionäre Mission« des Principals besteht darin, »uns den Daten anzugleichen und die Daten uns«.

Wird darin eine Art moderner Golem sichtbar? Die Frage ist interessant, wenngleich nicht ganz neu. So erörterte bereits Mitte der 60er-Jahre der aus Berlin stammende Religionshistoriker Gershom Scholem die Analogie zwischen Golem und künstlicher Intelligenz. Als das Weizmann-Institut im Jahr 1964 in Rehovot den ersten Großrechner in Betrieb nahm, trug dieser auf seinen Vorschlag hin den Namen »Golem Aleph«.

Bei der Einweihung seinerzeit sagte Scholem: »Kann es überraschen, dass der Mensch in seinem eigenen, so unendlich viel kleineren Bereich das versucht, was Gott auf seine Weise am Anfang unternahm?« Und er sprach die Hoffnung aus, dass die Maschine friedlich bleibe – ein halbes Jahrhundert, ehe Joshua Cohen zum besorgten Warner wird.

überwachung Die »Bombe« im Suchmaschinen-Zeitalter platzte, als Joshua Cohen bereits große Teile des Manuskripts fertiggestellt hatte. Im Sommer 2013 war das, als der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden Hunderttausende von klassifizierten Dokumenten verbreitete, die das Ausmaß der willkürlichen Überwachung von Bürgern durch die US-Regierung offenbarten – und über die Rolle, die Kommunikations- und Technologieunternehmen bei der Weitergabe von Kundendaten spielten.

Ungläubig las der Autor von einem Webkontrollprogramm namens »XKeyscore«: Es unterschied sich kaum von dem für den Roman erfundenen Programm »autotet«. »Die Welt machte dieses Buch wahr, während ich es schrieb, was mit Sicherheit die größte Fantasie eines Paranoikers ist«, bekennt Cohen und kommt zu dem Schluss: »Die Frage lautet jetzt nicht: ›Ist das wahr?‹, sondern: ›Wie können wir damit leben?‹« Anders ausgedrückt: Gelingt es uns, im Internet-Zeitalter menschlich zu bleiben, oder werden wir vom Golem beherrscht?

Joshua Cohen ergründet, wie Technologie jeden Aspekt unseres täglichen Lebens und Bewusstseins durchdringt. Wie sie die Entwicklung unserer Selbstwahrnehmung verändert und unsere Sprache infiziert. So soll etwa der von ihm häufige Gebrauch des erfundenen Verbs »tetramer« (was man mit »tetraieren« übersetzen könnte) daran erinnern, dass auch das Verb »googeln« ein noch recht neuer Begriff ist.

antiheld Technologie ist nicht länger etwas, das wir einfach nutzen. Es ist etwas, von dem wir benutzt und geformt werden. »Alle, die uns lesen, werden gelesen«, beschreibt Principal, der schattenhafte Antiheld des Romans, die Transaktion zwischen der Suchmaschinenfirma und ihren Nutzern.

Die daraus resultierende »wesentliche Frage« habe den Funken für den Roman geliefert, sagt Joshua Cohen: »Welche grundlegenden Prinzipien stecken hinter diesen Geräten, die dabei sind, jeden Aspekt meines Lebens zu dominieren?« Der 83-jährige Pulitzer-Preisträger Norman Rush äußerte sich in der New York Times bewundernd über »die Ambitioniertheit«, mit der Joshua Cohen das tut: »Er ist ein äußerst extravaganter, risikobereiter Autor, und diese Art Geist hat es gebraucht«, meint Rush.

Joshua Cohen hat es sich nicht leicht gemacht, das Phänomen des »neuen Golems« zu erfassen. Mehr als 180 Bücher hat er gelesen, einschließlich Abhandlungen zur Überwachung und Cybersicherheit, Bücher zur Geschichte und Architektur des Internets sowie Memoiren und Biografien technologischer Erneuerer wie Bill Gates, Steve Jobs, Alan Turing und des deutschen Computerpioniers Konrad Zuse, dessen Porträt über seinem Schreibtisch hängt. Er besuchte das Kryptologiemuseum der Nationalen Sicherheitsbehörde und lernte darüber hinaus, Computercodes zu schreiben, indem er Bücher über Python-Programmierung las und Online-Kurse absolvierte.

Jeschiwa-schüler »Ich interessierte mich für die Verknüpfungen zwischen diesen Algorithmen und Sprache«, sagt er und beschreitet damit die Brücke zum mythischen Golem des mittelalterlichen Judentums. So spielt in den »Golem-Rezepten« häufig die Kombination der Buchstaben des hebräischen Alfabets mit den Buchstaben des Gottesnamens eine zentrale Rolle. Mitunter wurden den Anleitungen Buchstaben-Tabellen, -Räder oder kosmologische Diagramme beigefügt, die die genauen Buchstabenkombinationen oder Planetenkonstellationen für den magischen Schöpfungsakt anzeigen.

Das alles weiß natürlich auch der einstige Jeschiwa-Schüler Joshua Cohen, der als Jugendlicher eine religiöse jüdische Hochschule in Atlantic City besuchte. Genau deshalb sind ihm »die Verknüpfungen zwischen diesen Algorithmen und Sprache« so wichtig. Auch wenn er im Buch selbst das Internet und seine vielfältigen Möglichkeiten nie direkt als Golem benennt, geht es dem Bestsellerautor darum, in seinen Werken das »Menschsein in Zeiten des Binärcodes« zu beschreiben.

Die legendäre Figur des Golems eignet sich für seine Vergleiche besonders gut. Das riesige Wesen, das der Sage nach durch rituelle Beschwörung mit hebräischer Buchstabenkombination aus unbelebter Materie zum Leben erweckt werden kann, funktioniert auch im Internetzeitalter. »Der Golem ist eine Projektionsfläche, ein Doppelgänger der eigenen Seele«, beschreibt Cohen den Bezug.

kritik Die Figur des Golems kann durch ein Schlüsselwort aktiviert werden. Dieses jüdische Konzept von Beschwörung und Code sieht Cohen im Internet widergespiegelt. Dabei wird der Golem eigentlich beschworen, um gute Dinge zu tun. So sei auch eine Internetseite wie Facebook ursprünglich geschaffen worden, »um Menschen miteinander zu verbinden«, so Cohen. Heute würden auf Facebook gefälschte Meldungen und Nachrichten seriöser Medien nebeneinander gestellt, und man könne nicht immer unterscheiden, welche von ihnen vertrauenswürdig sei und welche nicht. So zerstöre der Golem ein System, »das eigentlich für gute Taten gedacht war«.

Bleibt noch die Frage, warum es eigentlich kaum weibliche Golems gibt. Kann eine Suchmaschine weiblich sein? Mit diesem Aspekt des Golems, so scheint es, hat sich Joshua Cohen noch nicht weiter beschäftigt.

Vor diesem Hintergrund aber ist es interessant, dass Cohen von einem Literaturkritikers der New York Times vorgeworfen wurde, »mit weiblichen Romanfiguren seine Schwierigkeiten« zu haben. Sie seien in seinem Buch »leblose Schöpfungen«, »hauptsächlich Assistentinnen, unterwürfig und weinerlich«. Dabei gibt es durchaus weibliche Golems, so in John Sinclairs Roman Der weibliche Golem und in dem 2012 erschienenen Golem und Dschinn von Helene Wecker.

Der Golem »Internet« jedenfalls wird uns noch lange beschäftigen, und Joshua Cohens Book of Numbers (ab September 2017 auch in deutscher Übersetzung) bildet in dieser Hinsicht einen bemerkenswerten Einstieg.

Die Ausstellung »Golem« ist bis zum 29. Januar im Jüdischen Museum Berlin zu sehen.

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