Herr Brenner, in der kommenden Woche wird im Jüdischen Museum Berlin das 70-jährige Jubiläum des Leo Baeck Instituts (LBI) gefeiert. »Die Geschichte zu bewahren und die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft aufzuzeigen, ist in der heutigen Zeit wichtiger denn je«, schreiben Sie in der Einladung. Warum gerade jetzt?
Weil viele der Werte, für die auch das deutschsprachige Judentum gerade vor 1933 stand, in vielen Staaten heute sehr bedroht sind. Die Demokratie, die Freiheit der Wissenschaft und natürlich auch das Zusammenleben mit Minderheiten.
Hannah Arendt, Martin Buber, Gershom Scholem und andere haben das LBI im Mai 1955 gegründet, um Briefe, Erinnerungen, Tagebücher, Zeichnungen, aber auch Alltagsgegenstände des deutschsprachigen Judentums zu retten. Sie sind der internationale Präsident. Was ist Ihr Job?
Die drei Institute in Jerusalem, London und New York waren von Anfang an unabhängig – die Außenstelle im Jüdischen Museum Berlin kam später dazu. Die internationale Zusammenarbeit betrifft das Budget der Institute, aber auch die Planung von internationalen Tagungen und Forschungsprojekten. Nachdem Michael Meyer und ich in den 90er-Jahren die vierbändige »Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit« herausgegeben haben und danach eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, bereiten wir jetzt ein Buchprojekt samt Online-Portal unter dem Titel »Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora« vor.
Wann soll sie erscheinen, und worauf liegt der Fokus?
Frühestens in zwei Jahren. Es ist ein Projekt der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft (WAG) des Leo Baeck Instituts, das am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam unter Leitung von Miriam Rürup realisiert wird. Es geht um die Zentren der deutsch-jüdischen Diaspora, also die USA, Israel, England, Großbritannien und andere Länder. Marion Kaplan ist eine der Autorinnen, sie hat über die deutsch-jüdische Diaspora im Exil in der Dominikanischen Republik und in Portugal publiziert. Wir wollen uns auch Südamerika, Shanghai und andere »exotischere« Ziele ansehen.
Über das Leo Baeck Institut, das nach dem bedeutenden Rabbiner und Vertreter des liberalen deutschen Judentums benannt ist, wird immer gesagt, es sei »ein Stück Heimat«. Empfinden Sie das auch so?
Ja, ich kam 1988 als Doktorand nach New York und habe beim LBI sofort eine Beschäftigung bekommen, um mir ein bisschen Lebensunterhalt zu verdienen. Das war noch vor der Internet-Ära, als wir die sehr umfangreiche und über 1000 Bände umfassende Memoirensammlung digitalisiert haben. Viele Emigranten waren damals noch am Leben. Und dieses Zusammenkommen mit diesen älteren Menschen, von denen ich als junger Mann viele noch im Leo Baeck Institut kennengelernt habe, war auf jeden Fall ein Stück Heimat und ist es auch geblieben.
Sind die meisten Mitarbeiter immer noch aus deutschsprachigen oder ehemals deutschsprachigen jüdischen Familien?
Da hat sich einiges geändert. Alle Mitarbeiter, die inhaltlich arbeiten, sprechen natürlich Deutsch, aber nicht alle haben einen deutschen Hintergrund. Und diejenigen, die aus Deutschland kommen, sind auch nicht alle jüdisch. Ab den 70er-Jahren hat es, um es so zu nennen, eine gewisse Professionalisierung gegeben.
Wer besucht die Archive?
Einerseits kommen vor allem Historiker und Germanisten. Und dann gibt es Leute, die Familienforschung betreiben. Das New Yorker Institut hat das weitaus größte Archiv. Wir waren Pioniere der Digitalisierung, lange bevor andere Archive online gingen. Heute sind etwa 95 Prozent der Bestände online einsehbar. Man braucht aber nicht unbedingt nach New York zu reisen. Man kann an seinem Computer fast jeden Brief, jedes Dokument und jede Autobiografie aus dem riesigen Bestand dieses Instituts online einsehen. Zum Beispiel das Gästebuch von Albert Einstein, wo sich viele Besucher auch mit Zeichnungen eingetragen haben.
Was gibt es noch zu sehen oder zu hören?
Es gibt eine große Kunstsammlung, Werke von Max Liebermann, von Ludwig Meidner und anderen deutsch-jüdischen Künstlern. Und es gibt ein Podcast-Projekt des New Yorker Instituts über Exil in Amerika – auf Deutsch spricht es Iris Berben. Und beim neuen Projekt »Stolpertexte« lesen deutschsprachige Autorinnen wie Juli Zeh.
Sie sagten zu Beginn des Gesprächs, die Werte, die das deutsche Judentum vor 1933 – und auch danach – vertreten hat, seien heute weltweit in Gefahr. Wird die Arbeit der Leo Baeck Institute von dieser Entwicklung beeinträchtigt?
Was tatsächlich die konkrete Arbeit bedrohen könnte, ist die neue Gesetzesinitiative der jetzigen Regierung in Jerusalem, Förderungen durch ausländische Regierungsstellen zu unterbinden. Das LBI in Jerusalem wird – wie das LBI in London – auch vom Bundesinnenministerium in Berlin unterstützt. Diese Förderung ist für unsere Arbeit von existenzieller Bedeutung. Wenn das in Jerusalem nicht mehr möglich ist, bedroht das die Arbeit des Instituts. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir das abwenden können.
Und wie ist die Situation in New York?
Die allerjüngsten Maßnahmen der amerikanischen Regierung betreffen natürlich auch die Arbeit der Wissenschaftler, die mit dem Leo Baeck Institut verbunden sind.
Sie spielen auf den geplanten Ausschluss ausländischer Studenten von der Harvard-Universität an, den US-Präsident Donald Trump durchsetzen will?
Es kann auch über Harvard hinausgehen. Diese Attacken gegen eine freie Wissenschaft und internationale Wissenschaft treffen unsere Arbeit im Kern. Viele, die im Umfeld des Leo Baeck Instituts arbeiten, sind ja ausländische Wissenschaftler, die an amerikanischen Universitäten studieren und promovieren, lernen, lehren, forschen. Wenn so eine isolationistische Politik verfolgt wird, ist das nie im Sinne einer Wissenschaftsinstitution.
Was würden die Gründer des Leo Baeck Instituts darüber denken?
Ich glaube, dass Hannah Arendt, Gershom Scholem oder Martin Buber sehr deutlich und öffentlich auftreten würden und sich gegen jede Einschränkung der demokratischen Werte, der Wissenschaft, der Freiheit wenden würden. Daher ist es Aufgabe des Leo Baeck Instituts, genau diese Werte einzufordern.
Ist Wissenschaft eine Oase, in die Sie sich in dieser schwierigen Zeit zurückziehen können?
Die Wissenschaft ist keine Oase inmitten einer Wüste der politischen Instabilität, sondern die Wissenschaft reflektiert die aktuelle Situation. Ich sehe das gerade auch an amerikanischen Universitätscampus, wo antisemitische Slogans und zumindest verbale Gewalt zunehmen. Aber das wird von der Regierung in den USA ihrerseits als Vorwand benutzt, um einen Kahlschlag gegen die Universitäten durchzuführen. Das finde ich letztlich auch antisemitisch.
Flucht und Asyl sind Themen, die deutsche Juden geprägt haben, die sie mit ins Exil genommen haben …
… und leider sind sie wieder sehr aktuell. Heute sind viele Menschen von Flucht, Vertreibung und von Krieg bedroht, auch in Israel. Insofern ist unsere Arbeit politisch relevanter, als wir uns das eigentlich wünschen würden.
Mit dem internationalen Präsidenten des Leo Baeck Instituts sprach Ayala Goldmann.
Am 17. Juni wird das Gründungsjubiläum im Jüdischen Museum Berlin gefeiert.