»Die Außenseiter«

Die Welt ist eine Pferderennbahn

Jaimy Gordons preisgekrönter Roman kommt diese Woche endlich auf Deutsch heraus

von Harald Loch  24.01.2012 10:17 Uhr

Ein Pferd in ihrem Buch heißt »Little Spinoza«: Jaimy Gordon Foto: cc

Jaimy Gordons preisgekrönter Roman kommt diese Woche endlich auf Deutsch heraus

von Harald Loch  24.01.2012 10:17 Uhr

In einem Interview aus dem Jahre 1983 hatte Jaimy Gordon, auf ihre vielen Pläne angesprochen, noch im reinsten Jiddisch geantwortet: »Ich zol azoy lang leben«. Dann erhielt die Schriftstellerin 2010 den National Book Award für ihren Roman Lord of Misrule. Die wichtigste amerikanische Literaturauszeichnung für das Buch, das in der diese Woche erschienenen überzeugenden deutschen Übersetzung von Ingo Herzke Die Außenseiter heißt, glich einer Sensation.

anspruchsvoll Jaimy Gordon hatte bis dahin als Autorin eher in der zweiten Reihe gestanden. Doch nicht nur überraschte damals, dass eine Außenseiterin den Preis gewann, sondern auch, dass er einem literarisch sehr anspruchsvollem Werk zugesprochen wurde – »easy to like but hard to take«, urteilte der Kritiker der New York Times.

Die Außenseiter passt in keine Kategorisie. Vordergründig handelt es sich um einen Pferderoman. Auf der Billigrennbahn des fiktiven Ortes Indian Mound Downs in West Virginia geht es um kleine Gewinnsummen, um Pferde mit gesundheitlichen Macken, um Menschen mit und ohne Pferdeverstand, um Betrug, Doping und Gewalt. Dieses dem amerikanischen oder deutschen Durchschnittsleser nicht besonders vertraute Milieu wird im Laufe des Romans fast familiär, wirkt als Metapher für die Bedingungen des Lebens.

Im Mittelpunkt des Buchs steht Maggie Koderer, eine junge Journalistin, die mit ihrem Geliebten Tommy Hansel und vier Pferden auf der verkommenen Rennbahn einfällt. Ihr Lieblingstier ist der neunjährige Pelter. Es wird in diesem Roman manche Menschen und Pferde überleben.

In weiteren Hauptrollen begegnen dem Leser der 72-jährige schwarze Pferdezauberer Medicine Ed, Deucey, eine betagte Ein-Pferd-Halterin – beide an der ökonomischen wie existenziellen Borderline – Maggys jüdischer Onkel Two-Tie, ein ehemaliger Kredithai, der zu nächtlichen Pokerrunden einlädt, sowie eine Reihe von Pferden, die auf klangvolle Namen wie »Little Spinoza« oder »Mahdy« hören.

kunststücke Der Roman ist in vier Rennen unterteilt. Jedesmal wird manipuliert, gewinnt für die einen das richtige, für die anderen das falsche Pferd. Die dabei entstehende Spannung beschreibt Gordon ebenso authentisch wie ironisch. Ihr poetisch anspruchsvoller Stil ist von literarischen Kunststücken geprägt: Da wechselt etwa bei der Figur Tommy Hansel die Erzählperspektive abrupt von der dritten in die zweite Person, wobei das »Du« der zweiten Person ein »Ich« der ersten voraussetzt, das aber nicht enthüllt wird.

Überfallartige Übertreibungen schlagen wie Blitze in die Erzählung: Alice Nuzum soll »Little Spinoza« reiten, das Mädchen, das »keinem anderen Menschen ähnlich sah, nicht hässlich, aber wie zwischen Schlamm und Flusswasser geboren, man musste einfach glauben, dass das Schicksal schon seine formende Hand auf sie gelegt hatte und zufrieden war. Oder es nicht schlimmer machen konnte.« Dann folgt eine überraschende Passage über das Jüdische der Familie von Maggy und Two-Tie, dazwischen erotische Szenen von hoher literarischer Intensität, Ganovenslang, und nicht nur alltagstaugliche Reflexionen über den Lauf der Welt.

Die 1944 geborene Autorin ist Professorin für Englisch und Literatur an der Western Michigan University. In Die Außenseiter zieht sie viele literarische Register, ohne dass ihr der Roman aus dem Ruder läuft. Am Ende denkt man weniger an die Pferde als an die Bedingungen des Lebens der so überzeugend aus dem Grau der Masse gemeißelten Personen, weniger an die spannenden Rennen und Manipulationen als an die sprachliche Virtuosität und die unter einer glänzenden Oberfläche entstehende Tiefe.

Jaimy Gordon: »Die Außenseiter«. Übersetzt von Ingo Herzke. Aufbau, Berlin 2012, 328 S., 19,99 €

Zahl der Woche

Wie viel Liter Milch produziert eine Kuh in Israel durchschnittlich pro Jahr?

Fun Facts und Wissenswertes

 06.06.2023

Film

Mit Kälte beobachtet

In Cannes wurde »The Zone of Interest« über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet

von Patrick Heidmann  06.06.2023

Dialog

Igor Levit wird mit Buber-Rosenzweig-Medaille geehrt

Gewürdigt wird sein Einsatz gegen Antisemitismus und Rassismus

 06.06.2023

Glosse

Der Rest der Welt

Warum ich Steven Spielbergs Entschuldigung annehme

von Joshua Schultheis  06.06.2023

TV-Tipp

Arte-Doku über eine Heldin der Nazi-Zeit

Ihr Name ist weitgehend unbekannt - dabei rettete Aracy de Carvalho während der Nazi-Zeit zahllosen Juden das Leben: Die Hamburger Botschaftsmitarbeiterin verschaffte ihnen Visa in die Freiheit

von Katharina Zeckau  06.06.2023

Berlin

Akademie der Künste gibt Skizzenbuch von Max Liebermann an Nachfahrin zurück

Im Innendeckel war ein Stempel mit der Unterschrift des Malers entdeckt worden

 06.06.2023

Hollywood

Jonah Hill zum ersten Mal Vater geworden

Olivia Millar, die Freundin des Star-Schauspielers, ist die Mutter

 05.06.2023

Geschichte

CNN-Legende Wolf Blitzer zeigt in Berlin Holocaust-Doku

In dem Film geht es auch um die Familiengeschichte des Journalisten

von Anna Ringle  04.06.2023

Berlin

Haus der Kulturen der Welt feiert Wiedereröffnung

Kulturstaatsministerin Roth steht wegen ihrer Haltung zu BDS massiv in der Kritik. Nun gab sie ein Versprechen

 04.06.2023