Redezeit

»Die Stadt fasziniert mich«

Sara Blau Foto: Yanai Yechiel

Frau Blau, Sie werden bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen lesen, die am Samstag in Berlin beginnen. Sie sind zum ersten Mal in der Stadt. Sind Sie aufgeregt?
Ja, sehr. Ich habe mehrere Jahre am Institut für Holocaust-Studien in Haifa gearbeitet und währenddessen oft die Möglichkeit gehabt, nach Deutschland zu reisen. Aber ich weiß nicht, warum es diese ganzen Jahre nicht geklappt hat. Ich freue mich, jetzt als Autorin nach Deutschland zu kommen, und nicht im Rahmen meiner Institutsarbeit.

Was genau erwarten Sie denn?
Ich interessiere mich sehr für den Golem, über den ich ja auch geschrieben habe. Der Golem gehört zu Europa, und ich freue mich, nun dahin zu fahren.

Bei den Literaturtagen werden Sie über Identität sprechen. Sie sind in Bnei Brak in einer orthodoxen Umgebung aufgewachsen. Was bedeutet für Sie Identität?
Früher in der Schule gab es so ein Spiel. »Was bist du eher?«, fragten wir uns untereinander: ein Mensch, jüdisch oder israelisch. Und ich habe schon immer gedacht, dass meine Identität sehr jüdisch ist. Meine Familie ist religiös. Aber eigentlich besteht meine Identität aus zwei Teilen: Ich bin jüdisch und eine Frau. Meine Familie war dahingehend sehr modern.

Wie muss man es sich denn vorstellen, in Bnei Brak aufzuwachsen?
Vergessen Sie alles, was Sie über Tel Aviv wissen. Bnei Brak ist das komplette Gegenteil. Als ich ein kleines Mädchen war, war es das Wichtigste, sittsam zu sein – ein gutes Mädchen. Und das hat mir nie gefallen. Als junge Frauen gingen wir durch Bnei Brak, und die ältere Frauen sprachen uns einfach an: Seid zurückhaltender, tragt längere Röcke! Andererseits habe ich mich auch sehr behütet gefühlt, denn im Gegensatz zu Tel Aviv passierte in Bnei Brak wenig.

Wann gab es denn den ersten Kontakt mit Tel Avivern?
Nun, ich bin trotz aller Orthodoxie in einer modernen Familie aufgewachsen. Wir gingen nach Tel Aviv, wir hatten einen Fernseher, ich las Bücher. Ich war fasziniert von der großen Stadt. Ich wollte schon von klein auf Teil des kulturellen Lebens dort sein. Als ich erwachsen war, habe ich genau das getan, aber von Bnei Brak nach Tel Aviv war es eine sehr lange Reise. Heute lebe ich irgendwo dazwischen. Ich habe noch immer meine religiösen Wurzeln und schreibe über die Gesellschaft, aus der ich komme. Aber viele meiner Freunde sind säkular, sie leben in Tel Aviv. Ich bin weder in Bnei Brak zu Hause noch in Tel Aviv, so sehr ich es auch liebe.

Sie gelten als junge Stimme der neuen orthodoxen Literatur. Was bedeutet das eigentlich?
Bei den »alten« Orthodoxen hat man das Gefühl, dass sie ihre Texte für weltliche Leser verfassen. Sie erklären alles ganz genau: was eine Synagoge ist, was genau man dort macht und so weiter. Uns, den jungen Vertretern, ist es egal, ob der Leser säkular oder religiös ist, ob er das alles versteht. Es soll ja keine Folklore sein, bei der ich die Kippa meines Vaters beschreibe. Wenn es der Leser versteht, dann ist das großartig. Wenn nicht, dann ist das auch in Ordnung. Und das ist die Revolution meiner Generation: Man muss nicht mehr alles haargenau beschreiben, es ist einfach Teil unserer Welt.

Mit der Autorin sprach Katrin Richter.

Sarah Blau wurde 1973 geboren und ist in Bnei Brak in der Nähe von Tel Aviv aufgewachsen. Sie studierte Geschichte und Psychologie an der Bar-Ilan-Universität. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen und unterrichtet am Institut für Holocaust-Studien der Universität in Haifa. Blau ist eine der prominentesten neuen Stimmen der jungen orthodoxen Literatur aus Israel.

www.boell.de/de/glaubenssachen-deutsch-israelische-literaturtage-2014

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025

Hommage

Pionier des Erinnerns

Der Filmemacher und Journalist Claude Lanzmann wäre diese Woche 100 Jahre alt geworden. Unser Autor ist ihm mehrmals persönlich begegnet

von Vincent von Wroblewsky  26.11.2025

Zahl der Woche

6500 Rabbiner

Funfacts & Wissenswertes

 26.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Coole Nichten, coole Tanten

von Katrin Richter  26.11.2025

Kulturkolumne

Lob der Anwesenheit

Lahav Shani und Jason Stanley: Warum unser Autor nicht nur in der Westend-Synagoge vor Ort ist

von Eugen El  26.11.2025

Film

Shira Haas ist Teil der Netflix-Serie »The Boys from Brazil«

Die israelische Schauspielerin ist aus »Shtisel« und »Unorthodox« bekannt

 26.11.2025

Zwischenruf

Was bleibt von uns?

Was bleibt eigentlich von uns, wenn Apple mal wieder ein Update schickt, das alles löscht? Jede Höhlenmalerei erzählt mehr als eine nicht mehr lesbare Floppy Disk

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025