Schoa

Die Geschichten weiterschreiben

Christoph Heubner Foto: dpa

Es war der 27. Januar 2004, als Simone Veil zum Holocaust-Gedenktag vor dem Bundestag eine bemerkenswerte Rede hielt. Es war nicht nur die Rede der langjährigen Präsidentin des Europäischen Parlaments, sondern auch die einer Auschwitz-Überlebenden.

Danach kam es zu einer langen Begegnung zwischen ihr und dem Schriftsteller Christoph Heubner, während der ihn die große Europäerin »ruhig und bestimmt« aufforderte: »Ihr müsst unsere Geschichten weiterschreiben, ihr müsst euch die Fakten und unsere Erinnerungen aneignen und künstlerische Wege finden, unseren Emotionen eure Emotionen hinzuzufügen.«

Mehr als 15 Jahre nach jener Begegnung ist der deutsche Autor dieser Aufforderung nun auf 97 Seiten mit drei Geschichten nachgekommen. Das Bändchen mit dem Titel Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen ist soeben im Steidl-Verlag erschienen. Der Untertitel »Nach Auschwitz« ist räumlich wie zeitlich zu verstehen. Als Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees ist Christoph Heubner im Laufe der Jahre vielen Schoa-Überlebenden begegnet. Sie haben ihm ihre Geschichten erzählt, wie sie nach Auschwitz deportiert wurden, und die Schicksale, die sie nach Auschwitz erwarteten.

UNGARN Der mit Abstand stärkste der drei Texte ist die Erzählung »Das leere Haus« gleich zu Beginn. Es ist die Geschichte der jungen Magda Bermann, die nach der Befreiung nach Ungarn zu jenem Haus zurückkehrt, von wo aus sie einst mit ihren Eltern deportiert worden war. Heubner findet für sie literarisch schöne Sätze wie: »Ich habe Umwege über Umwege gemacht auf diesem Heimweg, der keiner war. Weil ich nicht wissen wollte, was ich längst wusste.« Hatte man ihrer Familie doch damals im Lager schon erzählt, wie sich die Nachbarn über ihr Hab und Gut hergemacht hätten.

Die erste der drei Erzählungen ist die mit Abstand stärkste.

Und natürlich wird die Heimkehrerin von der Türschwelle verjagt. Einfühlsam beschreibt Heubner das anschließende Umherirren von Magda Bermann und wie sie schließlich im DP-Camp in Kassel landet, das sie zunächst für Frankfurt hielt. Ihr Weg führte die junge Jüdin schließlich von Hessen nach Manhattan und vom Lohnjob in einer Schneiderei schließlich an der Seite von Joshua in den Pittsburgher Mittelstand. Das Gefühl der Schuld, überlebt zu haben, hat sie zeitlebens nie überwunden. Niemals aber hätte sie gedacht, dass sie im hohen Alter von 93 Jahren das Grauen noch einmal einholen würde.

DEPORTATION In »Ein Stück Wiese, ein Wald« werden Aussagen und Gedanken zweier Ungarn gegenübergestellt, die gerade aus Kaposvár deportiert wurden. Die beiden Namenlosen, ein Mann und eine Frau, erreichen im Sommer 1944 Auschwitz. Vor den Gaskammern müssen sie warten, da die »räumlichen Möglichkeiten« begrenzt sind. Heubner beschreibt ihre Gedanken, welche die Dimension des Unfassbaren gar nicht zulassen. Es ist bedrückend, wie die Frau angesichts von Musikfetzen von Schumanns »Träumerei«, die sie während der Deportation hinter einem Stacheldraht vernahm, empfindet, »als ob die Töne vergeblich wären, als ob es keinen Sinn mehr hätte zu träumen«. Überhaupt sind ihre halb in angstvoller Rede, halb als innerer Monolog beschriebenen Empfindungen tiefer und emotionaler als die des Mannes. Er denkt selbst in dieser Situation noch über seinen Holzhandel nach. Zu einem empfindsamen Menschen war er erst jüngst durch seine Enkelin Gilike geworden, die nun von deutschen SS-Männern irgendwohin gebracht wird.

TAGEBUCH Die »Tagebuchaufzeichnungen« des Osnabrücker Malers Felix Nussbaum und seiner Frau Felka Platek sind fiktiv, und das ist diesen Texten auch anzumerken. Christoph Heubner ist keine individuelle sprachliche Abgrenzung der beiden gelungen. Wobei man von »Tagebüchern« eigentlich gar nicht sprechen kann, da sie fast durchgängig pro Jahr und Person jeweils nur einen Eintrag haben. Hinzu kommt, dass sich insbesondere in den Jugendjahren Felka und Felix zum selben Zeitpunkt im gleichen Entwicklungsstadium zu befinden scheinen. Das aber ist unwahrscheinlich, denn immerhin war Felka Platek fast sechs Jahre älter als ihr späterer Ehemann. Die Beschäftigung mit dem kurzen Leben der beiden Künstler ist durchaus zu empfehlen, allerdings authentischer nachzulesen in der Biografie Orgelmann. Felix Nussbaum – ein Malerleben des belgischen Journalisten Mark Schaevers.

Ungeachtet dessen aber darf man auf weitere Geschichten von Überlebenden aus der Feder von Christoph Heubner gespannt sein. Im Epilog jedenfalls kündigt er es an, und Stoff hat er hierfür ganz sicher genug.

Christoph Heubner: »Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen«. Steidl, Göttingen 2019, 104 S., 14,80 €

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Mirna Funk

»In Tel Aviv bin ich glücklich«

Seit einem Jahr lebt die Berliner Autorin in Israel. Nun hat sie einen Reiseführer geschrieben. Mit uns spricht sie über Lieblingsorte, Israel in den 90er-Jahren und Klischees

von Alicia Rust  15.05.2025

Yael Adler

»Mir geht es um Balance, nicht um Perfektion«

Die Medizinerin über die Bedeutung von Ballaststoffen, darmfreundliche Ernährung als Stimmungsaufheller – und die Frage, warum man trotzdem auch mal eine Bratwurst essen darf

von Ayala Goldmann  15.05.2025

Basel

Israel und Österreich im zweiten ESC-Halbfinale

Beim ESC werden die letzten zehn Finalplätze vergeben. 16 Länder treten an, darunter Yuval Raphael für Israel. Auch JJ aus Österreich und das Duo für Deutschland, Abor & Tynna, stehen auf der Bühne

 15.05.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Tassen, Leggings, Mähnen: Auf der Suche nach dem Einhorn

von Nicole Dreyfus  14.05.2025

Zahl der Woche

30 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 14.05.2025

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 14.05.2025

Mythos

Forscher widerlegen Spekulation über Olympia-Attentat 1972

Neue Recherchen widersprechen einer landläufigen Annahme zum Münchner Olympia-Attentat: Demnach verfolgten die Terroristen die Geschehnisse nicht am Fernseher. Woher die falsche Erzählung stammen könnte

von Hannah Krewer  14.05.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 15. Mai bis zum 22. Mai

 14.05.2025