Ideologie

Die Germanomanen

Das völkische Denken kam nicht erst mit den Nazis auf, sondern hat seine Ursprünge im 19. Jahrhundert

von Julien Reitzenstein  29.10.2019 11:49 Uhr

»Das war ein Vorspiel nur«: Wartburgfest 1817 (Holzstich nach einer Zeichnung von Ludwig Burger) Foto: ullstein bild - histopics

Das völkische Denken kam nicht erst mit den Nazis auf, sondern hat seine Ursprünge im 19. Jahrhundert

von Julien Reitzenstein  29.10.2019 11:49 Uhr

Mit großer Besorgnis wird in den Medien das Erstarken völkischer Ideologie an den politischen Rändern kommentiert. Jedoch ist augenscheinlich, dass große Unklarheit darüber besteht, was genau diese völkische Ideologie ist. Die Ursache mag darin liegen, dass es sich um ein komplexes, über zwei Jahrhunderte gewachsenes Phänomen handelt.

Eine interdisziplinär arbeitende Wissenschaftlergruppe arbeitet seit einigen Jahren zu diesem Thema. Nun geht sie den nächsten Schritt: an die Öffentlichkeit. Es ist gut, das Völkische deutlich erkennen und seine Strömungen einordnen zu können. Denn eine Auseinandersetzung kann nur dann erfolgreich sein, wenn Herkunft und Ziele verstanden werden.

Nach über 20 Jahren am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin wird Uwe Puschner in wenigen Wochen emeritiert. Er gilt international als einer der profundesten Kenner der Geschichte des Völkischen. Immer wieder gelang es ihm, auf dieser Grundlage Diskurse anzustoßen. Ein Beispiel ist seine Feststellung, dass die Ideologie der Nationalsozialisten nichts Neues enthielt. Das Wesentliche sei schon vor deren Parteigründung existent gewesen.

KRIEG Ideologie als frühestes Raubgut jener Partei, die mit dem Raub an deutschen Juden ihre Macht festigte und mit Raubzügen in vielen Staaten Europas den verheerendsten Krieg der Geschichte finanzierte? Eines der zentralen Elemente der nationalsozialistischen Ideologie ist das völkische Gedankengut. Wenn dieses aber – wie heute häufig angenommen – nicht von den Nationalsozialisten entwickelt wurde und schon lange zuvor existierte, muss eine Frage umso deutlicher im Raume stehen: Was ist das völkische Gedankengut, und weshalb sind Politik und Medien so unbeholfen, es genau zu fassen?

Die Völkischen verbrannten 1817 die Bücher ihrer Kritiker.

Diese Frage umfassend zu beantworten vermochte bisher lediglich eine kleine Gruppe von Experten. Neben Uwe Puschner gilt der Basler Wissenschaftshistoriker Michael Fahlbusch als führend auf diesem Gebiet. Über Jahre verfolgte er zudem die Forschungen von Kollegen auf anderen Gebieten. Im Jahre 2008 gab Fahlbusch dann mit Kollegen das Handbuch der völkischen Wissenschaften heraus, das 2017 in stark erweiterter 2. Auflage erschien. 170 Wissenschaftler hatten auf 2255 Seiten 305 Beiträge verfasst, die erstmals ein Gesamtbild ermöglichen.

Das Buch wurde im Herbst 2017 im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung vorgestellt. Organisator und Träger der Tagung waren jene Strukturen, die sich einige Zeit später als »Geschichte und Zukunft e.V.« manifestierten. Vorsitzende dieses Trägervereins ist Anja Lobenstein-Reichmann. Die Professorin für Germanistik an der Akademie in Göttingen lehrt in Heidelberg und Prag. Ihre Forschungen zur »Sprache der Gewalt« leisten einen wichtigen Beitrag bei der derzeitigen Auseinandersetzung mit Verfassungsfeinden vom rechten Rand.

RASSE Um die heutigen Auswirkungen völkischer Phänomene besser zu verstehen, lohnt sich der Blick in die Geschichte. Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden politische Wiedergeburtsfantasien in Deutschland. Einige Protagonisten waren in ihren Vernichtungsfantasien so radikal, dass sie 120 Jahre später sogar von Nationalsozialisten skeptisch betrachtet wurden, wie Jakob Friedrich Fries und Hartwig von Hundt Radowsky. Letzterer geriet 1813 in das Umfeld der sogenannten »Germanomanen« Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt, Joseph Görres und Friedrich Ludwig Jahn. Deren Ideologie war gekennzeichnet von dem Glauben an die Überlegenheit der imaginären »ursprünglichen« Deutschen, ihrer (Rasse-)Reinheit und absoluten Eigenständigkeit, gemischt mit Xenophobie.

Schon 1811 betonte Fichte vor Verbindungsstudenten die Abgrenzung zum »Fremden«: »›Deutsch‹ heißt schon der Wortbedeutung nach ›völkisch‹, als ein ursprüngliches und selbständiges, nicht als zu einem Andern gehöriges, und Nachbild eines Andern.« Fichte empfahl ihnen weiter, »Undeutschheit und Ausländerei« auszurotten. Doch schon damals hatten die völkischen Germanomanen wehrhafte Kritiker. Einer der prominentesten ist der als Saul Ascher bekannte Saul ben Anschel Jaffe.

In seinem 1815 erschienenen Buch Germanomanie schrieb er: »Man muß die Menge, um auch sie für eine Ansicht oder Lehre einzunehmen, zu begeistern suchen; um das Feuer der Begeisterung zu erhalten, muß Brennstoff gesammelt werden, und in dem Häuflein Juden wollten unsere Germanomanen das erste Bündel Reiser zur Verbreitung der Flamme des Fanatismus hinlegen.« Mit Begeisterung verbrannten die Studenten Aschers Germanomanie auf dem Wartburgfest der deutschen Burschenschaften 1817.

RADIKALISIERUNG Zu einer breiten Blüte gelangte das Völkische nach der Reichsgründung 1871. Es erstreckte sich auf unübersehbar viele Bereiche der Gesellschaft. Darum ist es schwer, die völkische Bewegung präzise abgrenzend zu definieren. Michael Fahlbusch erklärt: »Konstitutiv für das ›Völkische‹ im Kaiserreich sind Inklusions- und Exklusionsstereotypen wie Antisemitismus, Rassenideologien, die mit einer Germanenideologie sowie arteigenen Kunst- und Kulturvorstellungen unterlegt sind. Die paradigmatische Unbestimmtheit völkischer Wissenschaften eröffnete eine dynamische Radikalisierung, mit der eine Anschlussfähigkeit weit in die unterschiedlichen bürgerlichen Milieus erreicht wurde, nicht zuletzt im Nationalsozialismus.«

Der Antisemitismus gehörte von Anfang an zum völkischen Denken.

Diese Unbestimmtheit in der Radikalität eröffnete im Nationalsozialismus seine mörderischen Folgen. Es ist erstaunlich, wie zahlreich die Nachwirkungen bis heute sind. Michael Fahlbusch nennt als ein Beispiel einen völkischen Protagonisten des NS-Regimes, Johann von Leers und dessen Vita: Der antisemitische Propagandist suchte seit den 30er-Jahren die Kooperation mit Islamisten. 1956 siedelte er nach Kairo über und arbeitete dort mit radikalen Muslimen zusammen. Der seit 1941 auch in Berlin lebende »Großmufti von Jerusalem« Mohammed Amin al-Husseini wurde seinerseits von solchen völkischen Ideologen des Regimes beeinflusst. Diese Ideologie nutzte er wiederum bei der ideologischen Ausbildung von muslimischen SS-Verbänden, die anschließend Kriegsverbrechen begingen.

Nach dem Krieg arbeitete von Leers in Kairo weiter mit radikalen Muslimen zusammen, wie auch mit al-Husseini. Dieser rief einen arabischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt aus. Dessen ideologische Verfasstheit zeigte manche Parallele zu den völkischen Theorien, nicht nur in Bezug auf den Antisemitismus der Völkischen. Insoweit vermögen die Spezialisten für das Völkische um Anja Lobenstein-Reichmann viele Narrative heutiger Zeit in einen historisch-wissenschaftlichen Kontext zu setzen.

PAULSKIRCHE Die diesjährige Jahrestagung von »Geschichte und Zukunft« widmet sich am 24. und 25. Oktober dem Einfluss der Völkischen auf das Paulskirchenparlament 1848/49. Die dort erarbeitete Verfassung sah erstmals völlige Gleichberechtigung der Juden vor. Doch auch viele andere Elemente unserer Demokratie wurden dort erstmals umgesetzt. Wissenschaftler aus dem In- und Ausland geben interessante Einblicke in die verschiedenen politischen Strömungen des »ersten deutschen Parlaments«.

Während sich das Programm der ersten eineinhalb Tage vor allem an Wissenschaftler wendet, richtet sich der zweite Veranstaltungsteil an eine breite Öffentlichkeit. Dort spricht beispielsweise der Historiker Rüdiger Hachtmann über den Berliner Friedhof der Märzgefallenen und die europäische Dimension der Revolution von 1848/49. Der Jurist Peter Schiffauer erläutert die Bedeutung der Paulskirchenversammlung für die europäische Verfassungsgeschichte, und Felix Klein geht auf die Bedeutung der Paulskirchenverfassung für die Gleichberechtigung der Juden ein.

Eine wissenschaftliche Befassung mit dem Völkischen ist auch und gerade in diesen Zeiten sinnvoll. Gesellschaftswissenschaftler, die sich nicht in Elfenbeintürme zurückziehen, sondern mit derartigen Veranstaltungen in die Gesellschaft hineinwirken, beleben den Diskurs. Vor allem aber wird so ermöglicht, die derzeitigen völkischen Narrative fundiert zu erkennen und zu dechiffrieren.

Julien Reitzenstein ist Historiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie Initiator und stellvertretender Vorsitzender von »Geschichte und Zukunft e.V.« (www.ge-zu.org). Er hat mehrere Monografien zur SS-Wissenschaftseinrichtung »Ahnenerbe« verfasst.

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