Joaquin Phoenix

Der sanfte Berserker

Joaquin Phoenix als haltloser Alkoholiker in »Don’t Worry, weglaufen geht nicht«, der am Donnerstag in die Kinos kommt Foto: Courtesy of Amazon Studios

Peter Ustinov hatte ordentlich vorgelegt. Unvergesslich der Auftritt des Briten als Kaiser Nero in Mervyn LeRoys Sandalenepos Quo Vadis? aus dem Jahr 1951.

Wie Ustinov mit schiefer Stimme schlechte Verse mehr jault als singt und auf der Lyra disharmonische Töne spielt, ganz ergriffen von sich selbst, während im Hintergrund Rom in Flammen aufgeht und sich auf den Gesichtern der Hofleute das Entsetzen malt: Nie fand dieser gefährliche Gemütszustand, diese hochexplosive Mischung aus Bedürftigkeit und Hybris, gültigere Gestalt als hier.

Bis, fast ein halbes Jahrhundert später, Joaquin Phoenix kam und in Gladiator, Ridley Scotts unwahrscheinlicher Wiederbelebung eines untergegangenen Genres, Commodus spielte. Commodus, den Vatermörder, den Inzestbruder, den enterbten Erben, den ungenügenden Sohn.

Feldherr »You are not a moral man!« Mit diesem Satz hatte der Vater, Marcus Aurelius, die Entscheidung begründet, nicht ihn, den Sohn, zum Nachfolger zu bestimmen, sondern den Feldherrn Maximus. Worüber Commodus derart außer sich gerät, dass er sich den greisen Vater im wahrsten Sinne des Wortes zur Brust nimmt und ihn an seinem Herzen erstickt. Wie Phoenix in die Enttäuschung des Commodus immer mehr Verzweiflung einfließen lässt, die schließlich gar nicht anders kann, als in Zorn, Wut und Untat zu münden, das ist, trotz und gerade wegen der Grausamkeit dieser Szene, die ganz hohe Schauspielkunst. Nimm das, Ustinov!

Es ist Joaquin Phoenix’ Vermögen, Emotionen zu mischen wie Maler ihre Farben und zu ihrem Ausdruck die Physis einzusetzen wie eine Leinwand. Und die liegt ein wenig quer zu jenen Körpertransformationen, die gemeinhin mit dem Method Acting assoziiert werden.

Freilich, es finden sich auch in Phoenix’ Filmografie genügend Beispiele für formale Charakterumrisse mittels Gewichtszunahme, Muskelaufbau, Hungerkuren oder wie für seinen neuen Film Don’t Worry, weglaufen geht nicht mittels des Entschlusses, sich monatelang ausschließlich in einem Rollstuhl fortzubewegen. Geradezu unheimlich ist es allerdings, wenn Phoenix mitunter im Laufe einer einzigen Szene die Gestalt wandelt und der Zuschauer plötzlich eine andere Person zu sehen glaubt.

Wie eben der Showman Commodus, der eine ebenso unangenehme wie anziehende Figur ist: abstoßend in ihrem Geltungsbedürfnis, furchteinflößend in ihrem Machtbewusstsein, einschüchternd ehrgeizig; dabei feige, eitel, kriecherisch und zugleich – darin erinnert er an Shakespeares Richard III. – mitleiderregend und armselig im kaum verhohlenen Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. Jedes Mittel ist Commodus recht, wenn nur das Volk ihn toll findet, wenn er nur geliebt wird.

Oscar Die Verkörperung dieser glorios jämmerlichen Gestalt, die am Ungeliebtsein zugrunde geht, brachte Joaquin Phoenix 2001 seine erste Oscar-Nominierung ein, der zwei weitere folgen sollten: eine für das Johnny-Cash-Biopic Walk the Line (2006)und eine für den abgründigen Film The Master (2013).

Dass sich die Figuren, die Joaquin Phoenix im Laufe seiner mittlerweile gut 35-jährigen Karriere gespielt hat, eher selten in tradierte Rollenmuster fügen, hängt möglicherweise mit der Sozialisation des Schauspielers zusammen.

Joaquin Raphael Bottom Phoenix, 1974 in San Juan, Puerto Rico, als drittes von fünf Kindern in eine jüdische Hippie-Familie geboren, wuchs alles andere als gewöhnlich auf. Schon die Vornamen seiner Geschwister – River, Rain, Liberty und Summer – sind klare Ansagen. Oder vielmehr Absagen der Eltern an jene öde und konservativ-restriktive Gesellschaft, aus der sie sich zur Flower-Power-Hochblüte verabschiedet hatten, um das alternative Leben und Lieben zu erproben. Um als Menschen neu geboren zu werden wie Phönix aus der Asche eben; daher auch der Nachname, den seine Mutter Arlyn Sharon Dunetz – eine ungarisch-russischstämmige Jüdin – für ihre vielköpfige Familie wählte.

Verantwortung In Lateinamerika, wo die Familie zeitweise heimisch war, waren die Eltern als Missionare der dubiosen Sekte Children of God tätig. Von der sagten sie sich 1978 los, um in die USA zurückzukehren und in Los Angeles den Weg ins Showbusiness zu suchen. Wobei die Verantwortung für den Unterhalt der Familie zunächst vor allem auf den Schultern des 1970 erstgeborenen River lastete. Der war bekanntlich ein schauspielerisches Riesentalent, das wegen seines Drogentods 1993 unentfaltet bleiben musste.

Rivers kleiner Bruder war Joaquin da aber schon länger nicht mehr. Begonnen hatte er beim Fernsehen, 1982, mit einem Auftritt in der Serie Seven Brides for Seven Brothers, die River bekannt gemacht hatte. Von 1986 an kamen Engagements in Kinofilmen hinzu. Von 1990 bis 1995 hingegen verzeichnet Phoenix’ Filmografie keine Einträge; damals überlegte er, die Schauspielerei aufzugeben, versuchte dies, probierte jenes, kehrte dann aber doch vor die Kamera zurück.

1995 spielte er in To Die For – einem Juwel des Indie-Kinos – den Proll-Jungen Jimmy Emmett. Dieser, ein verdruckster, verklemmter Sonderling, wird von Nicole Kidmans medienbesessener, skrupelloser Suzanne Stone verführt und aufs Übelste manipuliert. Jimmy verknallt sich rettungslos und kann sein Glück nicht fassen. Blind vor Liebe begeht er einen Mord und kommt eigentlich erst im Knast wieder zu sich – wo Phoenix seine Bauernopfer-Figur nicht zuletzt aufgrund der Klarsichtigkeit, mit der er sie ihre Lage begreifen lässt, aus ihrer vordergründigen White-Trash-Beschränktheit herausholt.

Experiment Was sich in To Die For außerdem besichtigen lässt, ist die, nennen wir sie mal unselige Psychodynamik zwischen Joaquin Phoenix und Casey Affleck, der als Jimmys bester Freund Russell Hines ein Exempel des Begriffs »schlechter Einfluss« statuiert. Der setzt sich, wenn man so will, im wahren Leben fort.

Im Oktober 2008 starteten sie gemeinsam ein gewagtes Projekt: Der 2010 gelüftete Hoax I’m Still Here gibt vor, Joaquins von Misserfolgen geprägten und in Verwahrlosung resultierenden Wechsel vom Filmschauspieler zum Rapper zu dokumentieren; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um ein mit vollem Körpereinsatz und erheiternder Boshaftigkeit durchgeführtes Experiment zum Verhältnis zwischen Prominenz, Publikum und Presse.

Joaquins umnebelter und verpeilter Wicht, über den sich schließlich ganz Hollywood lustig machte, ist die denk- und oscarwürdige Darbietung einer Kernschmelze in Zeitlupe. In ihrer Rückhaltlosigkeit beweist die riskante Aktion vor allem auch den Mut des Schauspielers. Allerdings sagt der Umstand, dass man Phoenix den Rap-Musiker-Unfug überhaupt zutraut, auch etwas aus über seinen Ruf als »schwierig« und »unberechenbar«.

Zäsur Der Häme nach zu urteilen, die ihm entgegenschlug, hätte I’m Still Here auch das Ende seiner Karriere bedeuten können. Stattdessen aber stellt das zwei Jahre währende Extrem-Spiel eine Zäsur in Phoenix’ Werk dar; es ist, als wären dadurch alle Zwänge von ihm abgefallen.

»Mich zum Affen zu machen«, meinte Phoenix über den Film, »war eine Befreiung; ich war ja von der Schauspielerei deshalb frustriert, weil ich sie so ernst nahm. Ich wollte derart gut sein, dass ich mir selbst im Weg stand; wie wenn du verliebt und nicht mehr du selbst bist, du willst beeindrucken, verlierst die Ungezwungenheit, und alles, was der andere sieht, ist ein verzweifeltes, vergebliches Versuchen.«

Was für Phoenix’ Arbeiten bis zur I’m Still Here-Zäsur 2008 gilt, gilt erst recht für die danach. Tatsächlich scheint er seitdem in bis dato nicht gekannte Dimensionen der Tiefenentspanntheit vorgedrungen zu sein. Auf der Suche nach ihrer Seele wird ihm das Innenleben einer Figur zum unbekannten Terrain, dergestalt, dass diese am Ende eines Films oftmals ein noch größeres Rätsel darstellt als zu Beginn.

Erwachen Manchmal scheint Phoenix aber auch zur Gänze zu verschwinden und gar nichts mehr zu machen. Etwa in Her, in dem der Sonderling Theodore sich in die Stimme seines Computers verliebt (man kann es ihm nicht verdenken, es ist die von Scarlett Johansson). Der Mann hört und schaut – mehr nicht, so scheint es. Doch Theodore, der sich abgeschlossen hatte von den Menschen, beginnt zu fühlen, und die Gefühle malen sich in seinem Gesicht, und das Erwachen einer ganzen Welt wird sichtbar.

Im Verborgenen kann bei Phoenix aber auch ein hintergründiger, schalkhafter Humor lauern, ein Übermut, ja, ein die Gefahr nicht achtender Mutwille, wie er den Comiczeichner John Callahan in Phoenix’ aktuellem Film Don’t Worry, weglaufen geht nicht auszeichnet.

Phoenix’ gelassene Darstellung kommt ohne jenes Pathos aus, das in solchen Rollen sonst als ­Oscar-Köder fungiert. Er gibt Callahan Agilität und spielt ihn ohne Mimikry. Üblicherweise würde man dieses Leben als eine einzige Verlustrechnung betrachten: als Kind von der Mutter verlassen, mit 21 Jahren an den Rollstuhl gefesselt, ein haltloser Alkoholiker und trauriger Hedonist. Phoenix durchbricht in seiner Darstellung von Callahans Memoiren diese Logik, indem er seine Rolle zwar an den Umständen mitunter verzweifeln, ihr aber trotzdem nie den Mut nehmen lässt.

Woher nur nimmt dieser exzessiv-sorglose Trinker, den das Laster in den Rollstuhl gebracht hat, seine Unverwüstlichkeit und obendrein noch gute Laune? Und woraus schöpft Phoenix, der sie ihm schenkt, seine Zuversicht? Es bleibt das Geheimnis des Schauspielers, nur in seinen Figuren tritt es zutage.

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