Finale

Der Rest der Welt

Zu meiner Schande muss ich leider gestehen, dass ich am Morgen etwa drei Minuten für das Morgengebet investiere. Mehr geht einfach nicht. Sobald ich aufstehe, gehe ich aufs Klo, wasche mich und bereite das Frühstück vor. Dann wachen meine zwei Kinder und die Frau auf, alle in schlechter Morgenstimmung.

Meine schwangere Frau will einen Grünen Tee, der Junge Cornflakes nach einer genauen Mischmenge, und die Tochter ist sowieso immer unzufrieden. Ich renne vom Tisch zur Küche und wieder zurück. Zwischendurch flöte ich meiner Frau zu, dass sie sehr gut aussieht. Sie guckt mich böse an und bestellt einen Kaffee. Der Junge hat inzwischen die Schokolade ausgetrunken, und die Tochter donnert irgendetwas gegen die WC-Tür.

Richterspruch Ich renne runter, um die Zeitung zu holen und in die Waschküche um uns für den Abend einzuschreiben. Oben wieder angekommen, laufen mir beide Kinder in die Arme. Sie haben sich gezankt und erwarten meinen Richtspruch. Ich schreie zuerst den Jungen, nachher das Mädchen an. Dann schreit mich meine Frau an, ich soll am Morgen nicht so laut schreien. Was soll denn das?

Um 7.15 Uhr gehe ich dann ins Arbeitszimmer, schultere mir den Tallit an, befestige die Tefillin und greife zum Siddur. Ich sage das »Schema« und ein paar Segenssprüche. Zwischendurch checke ich die E-Mails und die Gebote auf eBay. Die Kinder stürmen ins Zimmer. Der Junge hat dem Mädchen ein Matchbox-Auto (Jaguar XJC) an den Kopf geschmissen und dafür ein »My little Pony« auf den Arm geworfen bekommen. Normalerweise regelt das meine Frau. Aber sie ist ja schwanger und trinkt Grünen Tee. Ich bitte Gott also kurz um eine Auszeit und verhänge über beide Kinder eine Zehn-Minuten-Zimmerstunde. »Wo waren wir gerade?«, frage ich Gott und blättere zum nächsten Gebet.

Windel Ich versuche so schnell wie möglich zu beten. Das hört sich etwa so an: aschrejoschwewetechaodjehalaluchaselaamen! Gott wird mich schon verstehen, hoffe ich und blättere weiter, weiter, weiter. Irgendwo stinkt es. Nach benutzter Windel. Eigentlich darf ich jetzt gar nicht beten. Ich müsste zuerst den Stinkbeutel entfernen. Aber wo genau ist er? Ich entschuldige mich nochmals bei Gott und schreie die Kinder an, wo sie verdammt nochmal die Windel hingeworfen haben. »Sagtest du nicht, wir haben Zimmerstunde?«, brüllen sie einträchtig zurück. Jetzt zwickt’s mich langsam!

Ganz am Ende im Siddur befindet sich ein Gebet für Soldaten, die im Schützengraben stehen und wirklich nicht viel Zeit und Muße zum Beten haben, verständlich. Es ist sehr kurz und dauert knapp eine Minute. Schade, denke ich mir, dass es solche Gebetsabkürzungen nur für Männer im Krieg gibt, aber nicht für Männer wie mich.

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  18.11.2025

Literatur

John Irvings »Königin Esther«: Mythos oder Mensch?

Eigentlich wollte er keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus

von Taylan Gökalp  18.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  17.11.2025

TV-Tipp

»Unser jüdischer James Bond«

Die Arte-Doku »Der Jahrhundert-Spion« erzählt die schillernde Lebensgeschichte des Ex-CIA-Agenten Peter Sichel, der seinerzeit den Ausbruch des Kalten Kriegs beschleunigte

von Manfred Riepe  17.11.2025

Miss-Universe-Show

Miss Israel erhält Todesdrohungen nach angeblichem Seitenblick

Auch prominente Israelis sind immer öfter mit Judenhass konfrontiert. Diesmal trifft es Melanie Shiraz in Thailand

 17.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  17.11.2025

Jubiläum

Weltliteratur aus dem Exil: Vor 125 Jahren wurde Anna Seghers geboren

Ihre Romane über den Nationalsozialismus machten Anna Seghers weltberühmt. In ihrer westdeutschen Heimat galt die Schriftstellerin aus Mainz jedoch lange Zeit fast als Unperson, denn nach 1945 hatte sie sich bewusst für den Osten entschieden

von Karsten Packeiser  17.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025