Kürzlich bin ich mal wieder Bahn gefahren. Ich war selbst überrascht, dass beide Verbindungen pünktlich und die Zugbegleiter absolut höflich waren, insbesondere das Team im Bordrestaurant auf der Rückfahrt. So viel Freundlichkeit ist man ja fast nicht mehr gewohnt. Zugegeben, für das eiskalte belegte Vollkornbrötchen konnte es ja auch nichts, und kurz vor der Ankunft war der kleine Imbiss dann auch fast warm. Aber darüber möchte ich gar nicht schreiben.
Von meinem Platz aus konnte ich ein Geschwisterpaar sehen. Großer Bruder, kleine Schwester. Sie saß am Fenster, er am Gang. Er hatte dicke Kopfhörer auf, auf seinem Laptop lief der erste Teil von Indiana Jones.
Es waren nun einmal Sommerferien ...
Vielleicht waren die beiden so alt wie mein Bruder und ich damals, als wir in den Sommerferien zu unserer Großmutter fuhren. Sie wohnte bei Dresden, und ich fand es dort immer langweilig, denn Jungs durften bei ihr alles machen, Mädchen durften nicht an der Teppichstange klettern wie zu Hause am Klettergerüst. Aber es waren nun einmal Sommerferien, und ins Ferienlager schickte unsere Mutter uns nicht, weil … oder wollten wir nicht?
Also jedenfalls saßen wir beide im Zug von Betonstadt nach Elbflorenz. Mein Bruder war um die 14 und hatte im Jahr zuvor einen Rekorder geschenkt bekommen. Das war nicht irgendein flaches, cool designtes Ding, sondern ein viereckiger Klotz mit zwei eingebauten Boxen. Im Rekorder lag eine selbstbeschriftete Depeche-Mode-Kassette.
Wir saßen zu zweit auf einem Vierersitz, auf diesem harten braunen oder flaschengrünen Leder, das im Sommer irre heiß wurde, und zuckelten durch die Gegend. Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange die Fahrt dauerte. Wir hörten die Kassette ein paarmal durch. Ich fand es immer aufregend, mit meinem großen Bruder unterwegs zu sein. Er hörte coole Musik, er trug seine dunkelbraunen Locken hochtoupiert wie Robert Smith, der Sänger von The Cure, trug schwarze, zerrissene Jeans – die Mitte der 80er-Jahre war knapp vorbei.
Also ich fand es super!
Ob er es immer so cool fand, mit seiner kleinen, komplett unnervigen (augenroll) Schwester unterwegs zu sein? Schließlich ging ich ihm schon auf dem Schulhof immer auf den Keks, wenn ich stolz den Leuten aus seiner Klasse und auch den Lehrern erzählte, dass ich seine kleine Schwester sei. Ich ging auch einfach in sein Zimmer, wenn er Besuch hatte, um Hallo zu sagen – ich war überzeugt, dass das absolut angebracht sei.
Heute weiß ich, das war es. Und ich musste grinsen, als ich die beiden Geschwister sah, die komplett voneinander abgeschirmt jeder mit seinem Laptop im Zug saßen. Wie langweilig, dachte ich. Noch heute erinnern mich Songs wie »People Are People«, »Blasphemous Rumours« oder »Master and Servant« an diese Zugfahrt im heißen Sommer.
Ich bin nämlich immer noch die kleine Schwester, die eventuell mal nervt. Gerade heute: denn da hat mein großer Bruder Geburtstag. Und ich werde ihn schon am Morgen angerufen und ihm gratuliert haben, denn das nervt ihn besonders. Masal tov, Atze!