Glosse

Der Rest der Welt

Foto: Getty Images

Zugegeben, ich bin ja ein bisschen der Wintertyp. Mir gefällt es, wenn es draußen kalt und die Luft klar ist. Natürlich braucht man entsprechende Kleidung, sonst friert man. Und das mag selbstverständlich auch ich nicht. Wenn das Thermometer um die null Grad anzeigt – und das tut es derzeit fast täglich –, ziehe ich ohne mit der Wimper zu zucken eine Strumpfhose an.

Kein besonderer Gedanke – wohl aber ein besonderes Kleidungsstück. Es ist das gewöhnlichste, das unscheinbarste, das transparenteste, aber auch das fragilste und vielleicht auch eines der geschichtsträchtigsten. Verschiedene Strumpfrevolutionen sorgten für kulturgeschichtliche Wendungen, derer frühmorgens beim Anziehen kaum gedacht wird. Hauptsache, keine Laufmasche.

Die sorgt nur für unnötigen Stress. Ungefähr so, wie wenn die Naht nicht parallel zu den Zehen verläuft. Diese Naht ruiniert den ganzen Tag. Sowieso gilt: Sitzt die Strumpfhose nicht korrekt, wird ihr Tragen zur unbequemen Tortur. Doch spätestens seit vom Nylonstrumpf die Rede ist, sollte klar sein, dass diese zweite Haut nicht spürbar sein darf. Der Nylonstrumpf, vor allem aber die Strumpfhose aus Nylon, ist das Produkt erfolgreicher Nachkriegsjahre.

1956 wurde sie in Frankreich von einem visionären Industriellen namens Bernard Giberstein (ursprünglich Gibersztejn), der Widerstandskämpfer war und dessen Familie im Holocaust ermordet wurde, erfunden. Seine Idee, aus zwei Strümpfen ein neues Kleidungsstück herzustellen, war in der Tat revolutionär. Wer die Strümpfe jedoch tatsächlich erfunden hat, ist unklar.

Ein kleines Stück Menschheitsgeschichte, das sich bis heute nicht geändert hat.

Fakt ist, dass es sie schon in der Antike gab. In einem 2500 Jahre alten Grab in Ägypten wurde ein Paar entdeckt. Strümpfe und Socken wurden gleichwohl von Frauen wie Männern getragen. Ein kleines Stück Menschheitsgeschichte, das sich bis heute nicht geändert hat. Elegante schwarze Strümpfe galten später zweifellos als ein Zeichen für Noblesse. Der Strumpf sollte die Wade modellieren, denn eine schöne muskulöse Wade galt als Inbegriff von Männlichkeit und sollte auf das weibliche Geschlecht Eindruck machen. Angeblich ist es der Trendsetterin Königin Elisabeth I. von England zu verdanken, dass gestrickte Strümpfe auch am weiblichen Bein sexy aussahen, was vermutlich kein Zufall ist.

In diese Zeit fällt auch die Demokratisierung der Strümpfe. 1589 erfand der bitterarme Geistliche William Lee zur Finanzierung seiner Familie eine Strumpfwirkmaschine – doch durfte er sie nicht patentieren lassen. Von da an gab es Woll-, Seiden- oder Baumwollstrümpfe in allen Farben. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Gemustert, gepunktet oder zwischenzeitlich der modische Hit mit Löchern drin – Strumpfsache ist vielleicht ein wenig Charaktersache. Unter einer Hose spielt die Farbe wohl weniger eine Rolle, am besten bedient ist man oder frau vermutlich immer noch mit Schwarz. Zeitlos schön eben.

Bei Kindern gelten andere Modegesetze: Ringelstreifen, Punkte, Blumen oder Dinos. Doch scheint auch klar: Muster und Sujet sagen wohl weniger etwas über das Kind aus als über die Eltern. Wenn Streifen unverzüglich an Pippi Langstrumpf, weiße Strümpfe an Prinzessinnen erinnern, so gilt es doch heute hoffentlich endlich als Kompliment, ein »Blaustrumpf« zu sein.

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025