Glosse

Der Rest der Welt

Foto: Getty Images

Als ich noch zur Schule ging und für die Hohen Feiertage eine Freistellung beantragte, war das für mich das Normalste der Welt. Ich hatte mir nur selten darüber Gedanken gemacht, dass ich die einzige jüdische Schülerin an einem nichtjüdischen Gymnasium war. Antisemitismus war nie ein Thema. Ich war einfach Teil der Klasse und fertig. Manchmal keimte etwas Interesse fürs Judentum auf, aber das war es dann auch schon wieder für eine Weile. Die Anteilnahme an meiner Religion flackerte vor allem dann auf, wenn ich ihretwegen fehlte. Und das war an Rosch Haschana und Jom Kippur.

Eine Frage, die mir eine Mitschülerin um die Zeit der Feiertage einmal gestellt hatte, habe ich nie vergessen. Wir stellten gerade unsere Fahrräder vor der Schule ab, als sie von mir wissen wollte, was denn Rosch Haschana überhaupt sei. Ich antwortete ihr, es sei das jüdische Neujahrsfest, worauf sie mich fragte: »Stoßt ihr dann auch um Mitternacht mit Champagner an?« Ich brachte ein zögerliches »Nein« heraus.

Was wir denn machen würden? Ich versuchte, ihr zu erklären, dass »man halt in die Synagoge« ginge und mit der Familie zusammen sei wie sie wohl an Weihnachten. Sie verstand und verstand nicht – und ich selbst war unbefriedigt ob meiner eigenen Antwort. Die Frage hallt bis heute in mir nach. Nein, wir stoßen nicht an, wo wir doch bei jedem Glas Wasser, das wir trinken, »LeChaim« sagen.

Warum nur begrüßen wir das neue Jahr nicht mit Fanfaren, wo wir doch sonst alles feiern, und zwar ausgiebig?

Warum nur begrüßen wir das neue Jahr nicht mit Fanfaren, wo wir doch sonst alles feiern, und zwar ausgiebig? Ausgerechnet den Jahreswechsel begehen wir mit Reflexion und Andacht, wir ziehen Bilanz über unser eigenes Verhalten und räsonieren über eine gute Zukunft. Während der eine oder andere nichtjüdische Freund sich an Silvester vornimmt, im neuen Jahr mehr Sport zu treiben – und das ist gewiss ein sehr vorbildlicher Vorsatz –, tunken wir beim Jahreswechsel Äpfel in Honig. Vor allem süß soll das neue Jahr werden. Trotz oder gerade weil die Bitterkeit des Lebens nicht immer erträglich ist, verlangen wir nach Süße.

Jahr für Jahr, und dies seit Jahrhunderten. Das liegt in unserer jüdischen DNA. Genauso wie das Essen selbst. Zugegeben, wir essen viel. Die einen Gefilte Fisch (ich nicht!), die anderen sonst aufwendig gekochte Speisen (ich ja!). Indem wir essen, zelebrieren wir den Feiertag, vor allem aber die Familie und das Leben. Wir brauchen kein Lametta, kein Knallen, wohl aber ein paar Kalorien, um uns zu vergegenwärtigen, dass die Zählung weitergeht beziehungsweise der Zyklus eines Jahres wieder an seinen Ausgangspunkt gelangt ist.

Während wir uns mit dem Gedanken an einen Neuanfang in vielerlei Hinsicht beschäftigen, wird uns unweigerlich klar, dass wir nicht nur die letzten 365 Tage Revue passieren lassen, sondern auch die nächsten 365 Tage mit einer Prise Humor und einer Portion Demut angehen sollten. Wer kann schließlich schon ernsthaft von sich behaupten, dass er im nächsten Jahr keine Fehler machen wird? Darauf sollten wir eigentlich anstoßen! Also doch ein Glas Champagner dieses Jahr zu Rosch Haschana? Vielleicht sollte ich meiner Schulkameradin von früher schreiben und ihr nochmal von Neuem erklären, was wir alles unternehmen, um das jüdische neue Jahr zu feiern. In diesem Sinne: Schana tova umetuka!

Justiz

Dieter Hallervorden und Diether Dehm zeigen Kanzler Friedrich Merz wegen »Drecksarbeit«-Aussage an

Mit seiner Bemerkung zu Israels Angriff auf den Iran hat Kanzler Merz für viel Zustimmung und Ablehnung gesorgt. Nun sollte sich die Justiz damit beschäftigen, meinen einige

 20.06.2025

Medien

Enkel des »Weltbühne«-Gründers übt scharfe Kritik an Verleger Friedrich

Erst kürzlich hatte der Verleger der »Berliner Zeitung« die Zeitschrift »Weltbühne« wieder aufleben lassen. Nun erhebt der Enkel des jüdischen Gründers schwere Vorwürfe gegen ihn

 20.06.2025

TV-Tipp

Robert Lembke: Schikaniert wegen seines jüdischen Vaters

Wer war der Moderator Robert Lembke? 70 Jahre nach dem Start der legendären Quizsendung »Was bin ich?« fasziniert das Dokudrama »Robert Lembke – Wer bin ich?«. Ein Schatz in der ARD-Mediathek

von Gregor Tholl  20.06.2025

Ausstellung

Die Schocken-Show

Das Jüdische Museum Berlin ehrt den Unternehmer und Verleger Salman Schocken dank eines Stars der US-Literatur

von Sophie Albers Ben Chamo  19.06.2025

Kulturkolumne

Zwischen Kotel und Kotti

Wie KI unseren Autor berühmt machte

von Eugen El  19.06.2025

FU Berlin

Sparmaßnahmen an Berliner Hochschulen treffen wohl auch Judaistik

An der Freien Universität ist unklar, ob eine Professur neu besetzt wird.

 19.06.2025

Fürth

Jüdisches Museum sucht geraubte kleine Dame

Man werde für eine Suchaktion an alle bekannten Kunstgalerien Flyer schicken und eine Anzeige in einer überregionalen Tageszeitung aufgeben

 18.06.2025

Sachbuch

Zweistaatenlösung, erster Versuch

Oren Kessler zeigt, wie sich bereits 1936 ein Grundmuster des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern herausbildete

von Ralf Balke  18.06.2025

Zahl der Woche

8. Platz

Fun Facts und Wissenswertes

 18.06.2025